Unearthly. Himmelsbrand (German Edition)
Himmel. Und ich sehe …» Sein Mund zuckt. «Wie gesagt, ich will nicht darüber reden. Visionen bringen einen nur in Schwierigkeiten. Beim letzten Mal habe ich mich dabei gesehen, wie ich einen Waldbrand lege. Jetzt sag du mir, was für eine göttliche Botschaft das sein soll.»
«Aber du bist tapfer gewesen, Jeffrey», erwidere ich. «Du hast dich bewiesen. Du musstest entscheiden, ob du deinen Visionen vertrauen solltest, ob du dem Plan vertrauen solltest, und genau das hast du getan. Du hast dich als loyal erwiesen.»
Er schüttelt den Kopf. «Und was hat mir das eingebracht? Was ist aus mir geworden?»
Einer, der auf der Flucht ist, denkt er. Ein Schulabbrecher. Ein Versager.
Ich strecke den Arm über den Tisch aus und lege meine Hand auf seine. «Es tut mir leid, Jeffrey. Es tut mir wirklich sehr, sehr leid. Alles.»
Er zieht die Hand weg, hustet. «Schon gut, Clara. Ich gebe dir nicht die Schuld.»
Das ist mal was Neues, denn als ich das letzte Mal nachgefragt habe, meinte er noch, ich sei an allem schuld.
«Ich gebe Gott die Schuld», sagt er. «Wenn es so was wie einen Gott überhaupt gibt. Manchmal hab ich das Gefühl, wir sind alle nur dumme Hornochsen, machen dieses Zeug aus unseren Visionen, bloß weil uns einer das gesagt hat, im Namen einer Gottheit, für deren Existenz es keinen Beweis gibt. Vielleicht haben die Visionen ja überhaupt nichts mit Gott zu tun, und wir sehen einfach nur die Zukunft. Vielleicht erhalten wir so nur den Mythos aufrecht.»
Große Worte, die da aus meinem Bruder kommen, und einen Moment lang habe ich das Gefühl, dass ich mit einem Wildfremden hier am Tisch sitze, mir die Argumente eines ganz anderen anhöre. «Jetzt komm schon, Jeffrey. Wie kannst du denn so was …»
Er hebt die Hand. «Fang mir jetzt bloß nicht von Religion an, okay? Für mich ist alles ganz in Ordnung. Ich gehe im Moment allen größeren Gewässern aus dem Weg, meine Vision wird also kein Problem sein. Aber eigentlich wollten wir über dich reden. Schon vergessen?»
Ich beiße mir auf die Lippen. «Was willst du wissen?»
«Gehst du mit Christian, jetzt, da …» Er bricht ab.
«Jetzt, da ich mit Tucker Schluss gemacht habe?», spreche ich den Satz für ihn zu Ende. «Nein. Wir sind nur Freunde. Und sonst versuchen wir, einfach so viel wie möglich rauszufinden.»
Wir sind natürlich mehr als nur Freunde, aber ich weiß nicht, was dieses Mehr bedeutet.
«Du solltest aber mit ihm gehen und so», sagt Jeffrey. «Er ist dein Seelenfreund. Was gibt es da noch rauszufinden?»
Ich verschlucke mich fast an meinem Orangensaft. «Mein Seelenfreund?»
«Klar. Deine andere Hälfte, dein Schicksal, der Mensch, der dich vervollständigt.»
«Also hör mal, ich bin schon ein vollständiger Mensch», sage ich lachend. «Ich brauche doch nicht Christian zur Vervollkommnung.»
«Aber da ist was an euch beiden, wenn ihr zusammen seid. So als ob ihr zusammengehört.» Er grinst. Zuckt mit den Schultern. «Er ist dein Seelenfreund.»
«Wow, jetzt hör aber mal endlich auf mit diesem Wort.» Ich fasse es einfach nicht, dass ich solch ein Gespräch mit meinem sechzehn Jahre alten Bruder führe. «Wo hast du das Wort überhaupt her – Seelenfreund ?»
«Ach komm schon … Du weißt doch, so was sagen die Leute eben.»
Ich staune mit weit offenen Augen, als ich, von ihm ausstrahlend, ein Aufblitzen von Verlegenheit spüre und das Bild eines lächelnden Mädchens mit langem, dunklem Haar und rubinroten Lippen empfange. «Ach mein Gott. Du hast eine Freundin.»
Sein Gesicht nimmt eine charmante Schattierung von Fuchsienrot an. «Sie ist nicht meine Freundin …»
«Nee, schon klar, sie ist deine Seelenfreundin», säusele ich. «Wie hast du sie kennengelernt?»
«Also eigentlich kannte ich sie schon, ehe wir nach Wyoming gezogen sind. Sie ist mit uns zur Schule gegangen.»
Ich bin platt. «Hör auf! Dann kenne ich sie ja wahrscheinlich. Wie heißt sie denn?»
Er funkelt mich an. «Das ist keine große Sache. Wir gehen nicht miteinander. Du kennst sie nicht.»
«Wie heißt sie?», beharre ich. «Wie heißt sie, wie heißt sie? So kann ich noch den ganzen Tag weitermachen.»
Er ist offenbar wütend, aber er sagt es mir. «Lucy. Lucy Wick.»
Er hat recht; ich kenne sie nicht. Ich lehne mich zurück. «Lucy. Deine Seelenfreundin.»
Warnend zeigt er mit dem Finger auf mich. «Clara, ich schwöre …»
«Das ist toll», sage ich. Vielleicht bringt ihn das zur Vernunft, gibt es ihm etwas Positives,
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