Unearthly. Himmelsbrand (German Edition)
jetzt schlafen», sage ich zu ihm. Ich streiche ihm das Haar aus dem Gesicht, meine Finger verharren einen Augenblick auf seiner Schläfe. Er schließt die Augen. Ich nehme die Hand von seiner Stirn und schaue wieder zu Charlie, der immer noch völlig in sein Computerspiel versunken ist.
Dann rufe ich den Glanz in meine Finger und schicke ein winziges bisschen davon zu Christian.
Er öffnet die Augen wieder. «Was hast du da gerade gemacht?»
«Fühlt sich dein Kopf besser an?»
Er blinzelt ein paarmal. «Der Schmerz ist weg», flüstert er. «Vollkommen weg.»
«Gut. Und jetzt schlaf», sage ich.
«Weißt du, Clara», seufzt er schläfrig, als ich gehen will. «Du solltest Ärztin werden.»
Ich schließe die Tür hinter mir, dann lasse ich mir einen Moment Zeit, um mich gegen die Wand zu lehnen und tief Luft zu holen.
Schon komisch. Da sehe ich seit Monaten diesen dunklen Raum, und ich weiß, irgendwas Schlimmes ist passiert, nur Augenblicke, ehe Christian und ich dort landen, und ich weiß, es ist nicht gut, wenn wir uns dort verstecken, und ich weiß, bei dieser ganzen Vision könnte es um Leben oder Tod gehen. Diese Leute, wer immer sie sind, wollen uns töten. Das habe ich von Anfang an gespürt.
Aber ich glaube, ich habe nie ernsthaft in Erwägung gezogen, dass ich sterben könnte.
Na schön, Gott. Beim Frühstück am Sonntagmorgen schaue ich hoch in den Himmel und knabbere an einem trockenen Stück Toast, während die Glocken der Memorial Church im Hintergrund schlagen. Gib mir eine Chance. Ich bin achtzehn. Wieso lässt du mich all das durchmachen, den Waldbrand und die Visionen und das Training, wenn ich dann doch ins Gras beißen muss?
Aber vielleicht ist das ja auch eine Strafe. Dafür dass ich meine Aufgabe beim ersten Mal nicht erfüllt habe.
Oder vielleicht ist es so etwas wie die letzte Prüfung.
Lieber Gott , schreibe ich in mein Notizbuch, als ich am Montagmorgen im Chemiekurs sitze und mir einen Vortrag über die Gesetze der Thermodynamik anhöre. Ich will nicht sterben. Nicht jetzt. Mit freundlichen Grüßen, Clara Gardner.
Bitte Gott , bete ich, als ich am Dienstagmorgen um drei Uhr früh aufstehe, um meine Seminararbeit über T. S. Eliot runterzuhauen. Bitte. Ich will nicht sterben. Ich bin noch nicht bereit dazu. Ich habe Angst.
«Ach ja?», sagt T. S. Eliot. «Ich zeige dir die Angst in einer Handvoll Staub.»
Zur Neugestaltung der Welt durch den Dichter taucht Angela nicht auf. Reicht ihre Arbeit nicht ein. Was nach den Regeln des Lehrplans bedeutet, dass sie den Kurs nicht bestehen wird.
Bei der Vorstellung durchläuft mich ein Frösteln. Angela Zerbino: glatte Einser-Kandidatin, Abschiedsrednerin auf der Highschool, die totale Streberin, Liebhaberin von allem, was nur entfernt mit Lyrik zu tun hat, wird durch ihren ersten Lyrikkurs am College fallen.
Ich muss sie finden. Mit ihr reden. Und zwar, verdammt noch mal, jetzt sofort. Ich will tun, was immer nötig ist.
Kaum ist der Kurs vorbei, rufe ich Amy an. «Weißt du, wo Angela ist?», frage ich.
«Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie in unserem Zimmer», antwortet sie. «Wieso? Ist irgendwas los?»
Oh, es ist tatsächlich irgendwas los.
Ich laufe den ganzen Weg zurück zum Wohnheim, bleibe aber wie angewurzelt stehen, als ich das Gebäude erreiche. Denn wieder einmal sitzt eine Krähe auf dem Fahrradständer.
«Hast du nichts Besseres zu tun?», frage ich die Krähe.
Keine Antwort, außer, dass sie vom Fahrradständer auf eines der Fahrräder hüpft. Auf mein Fahrrad, um ganz genau zu sein.
Vogelkacke will ich nicht auf meinem Rad haben, ob es nun kaputt ist oder nicht. Ich mache ein paar Schritte nach vorn und wedele mit den Armen in Richtung Vogel. «Hau ab. Verschwinde von hier!»
Er legt den Kopf schief, starrt mich an, regt sich sonst aber nicht.
«Los, verschwinde!»
Jetzt stehe ich direkt vor ihm. Ich könnte ihn berühren, wenn ich wollte, und er bewegt sich nicht. Ruhig starrt er mich an und weicht nicht von der Stelle. Und da weiß ich sicher – oder vielleicht wusste ich es immer schon, wollte es mir nur nicht eingestehen –, dass dies keine gewöhnliche Krähe ist.
Es ist überhaupt kein Vogel.
Da öffne ich meinen Geist, so als wollte ich eine Tür aufbrechen, jedoch bereit, sie sofort wieder zu schließen. Ich spüre ihn und spüre auch dieses spezielle Aroma des Kummers, den ich so gut kenne. Ich höre diese traurige Musik, die ich letztes Jahr schon gehört habe und die mich
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