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Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gioconda Belli
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feindselige Landschaft wie diese geben konnte. Eva ging neben ihm her und war damit beschäftigt, den Eindruck zu verkraften, plötzlich geschrumpft zu sein. Sie fühlte sich winzig klein, verletzlich. Ihre Augen brannten, und in der Nase spürte sie ein Stechen.
    »Was wohl dort drüben ist, wo der Himmel aufhört, Adam? Noch eine Schlucht?«
    »Das ist der Horizont«, erwiderte er. »Wenn du achtgibst, dann merkst du, wie er sich beim Laufen verschiebt.«
    Eva schaute zu den Wolken auf. Wo die wohl hingehen, dachte sie, eine Frage, die sie sich nie gestellt hatte, als sie noch im Garten am Fluss lag und die Wolken über ihren Kopf ziehen sah.
     
    Ohne sich abzusprechen, lenkten beide ihre Schritte zu dem grünen Flecken eines Kiefernwaldes. Eva blieb immer wieder stehen, hob Steine vom Boden auf oder pflückte Gräser und roch daran. Ihr kamen der Lebensbaum und der Baum der Erkenntnis in den Sinn, wie ähnlich sie doch waren und auch wie gegensätzlich! Auch außerhalb des Gartens fand sie auf der Erde Gebilde und Düfte, die sie an ihr Paradies erinnerten. Allerdings schien hier jedes Ding die Wahl zu haben: Die Steine etwa konnten Schaden zufügen, wenn sie ihr beim Laufen in die Fußsohlen schnitten, oder aber sie zeigten ihre scharfen Kanten und ihre Härte nur, wenn sie sich bückte, einen Stein aufhob und ihn auf dem Handteller betrachtete.
    Ob wohl alles um sie herum von Gut und Böse durchsetzt war, fragte sie sich. Als sie die Hand ausstreckte, um eine vollkommene blaue Wildblume zu berühren, zuckte sie zurück. Sie hatte Stacheln! Niemals hätte sie damit gerechnet, dass eine Blume sie verletzen könnte.
    Adam sah Eva den Steinen auf dem Weg ausweichen. Sie bohrten sich auch ihm in die Füße und nötigten ihn, zur Seite zu springen, um das Stechen zu vermeiden, das ihm die Beine hinaufstieg und sich auf eigenartige Weise bis in die Brust fortsetzte. Seit sie begonnen hatten, sich vom Garten zu entfernen, verursachte ihm derselbe Leib, der ihm noch vor kurzem so viel Wonne bereitet hatte, unzählige Empfindungen, die er weder verstehen noch verhindern konnte. Der feine Staub in der Luft trocknete ihm die Kehle aus, das aschfarbene Licht legte sich auf sein Fleisch, nahm ihm den Atem und ließ Salzwasser auf seiner Haut erscheinen. Neue Worte wie Schmerz und Schweiß tauchten in seinem Bewusstsein auf und benannten jenes verwirrende Unwohlsein.
    Während Eva ein Stück von ihm abrückte, um die unbekannten Bäume, Gräser und kleinen Blumen anzufassen, konnte er es nicht lassen, sich unaufhörlich sehnsüchtig nach dem Garten umzuschauen und sich bange zu fragen, ob Elohims zorniger Entschluss, sie zu vertreiben und der Einsamkeit jener allzu großen und unwirtlichen Landschaft auszusetzen, wohl wieder umkehrbar war.
     
    Auf halber Strecke erblickte Adam einen Falken, der in der Ferne seine Kreise zog. Die Tiere, dachte er. Er hatte sie völlig vergessen. Wo mochten bloß die Tiere sein? Was war aus ihnen geworden?
    Der milchig weiße Himmel lastete schwer auf seinen Schultern. Er fragte sich, ob jenes bleiche Licht ebenso anhaltend wäre wie früher das warme, goldene Licht im Garten. Das Gefühl von schweißgebadeter Haut und die Hitze, die seinen Körper zum Kochen brachte, nötigten ihn, seine Schritte zu verlangsamen. Auch Eva schwitzte. Ihre schimmernde, feuchte Haut verlockte Adam. Er näherte sich ihr und strich ihr mit der Hand über den Rücken, über die Arme. Er bemerkte den rötlichen Ton, den sie angenommen hatte, und fragte sich, ob sich in Eva die Farbe der Erde widerspiegelte. Obwohl sie immer weitergingen, kamen sie dem fernen Flecken Grün kaum näher. Eva lauschte dem Wind. Woher kam er? Er war wie Elohim, unsichtbar, aber allgegenwärtig. Dann meinte sie ein Lachen zu hören und dachte, dass das die anderen sein könnten, all jene, die sie gesehen hatte. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sie in dieser endlosen Weite allein waren. Im Wasser des Flusses waren es viele gewesen. Dann vernahm sie das Lachen zum zweiten Mal. Mit einer Geste hieß sie Adam, stehenzubleiben.
     
    »Hörst du das? Da lacht jemand.«
    »Die Schlange. Die wird hier irgendwo sein.«
     
    Der Mann hob den Blick. Sie standen in unmittelbarer Nähe einer Gruppe seltsamer Felsformationen, die wie riesige Monolithe aus der Erde emporragten und an den Wänden blassrosa bis orangefarbige Streifen aufwiesen. Das Lachen war jetzt noch deutlicher zu hören. Es klang nicht wie die Schlange. Adam lief auf die

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