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Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gioconda Belli
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entdeckte er einen weiteren Baum, diesmal mit grünen Früchten an den Zweigen. Er ließ Eva weiterschlafen und ging sie pflücken. Birnen, dachte er. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Er warf dem Hund eine hin. Und sah ihn hineinbeißen. Er sah, wie ihm der Saft aus der Schnauze troff. Dann pflückte er eine zweite Frucht. Im Begriff, sie in den Mund zu stecken, warf er sie plötzlich im hohen Bogen von sich. Der Hund lief hin und holte sie. Adam schlug die Hände vors Gesicht. Er roch den Duft der Birne an seinen Fingern. Nein!, rief er, und sein Erschrecken war mächtiger als der Hunger. Bei diesem fruchtigen Duft war er wie von Sinnen. Das war viel zu gefährlich, entschied er dann. Am Ende forderte er damit Elohims Zorn erneut heraus, nein, nicht auszudenken, welche Strafe ihnen dann blühte. Früchte waren einfach zu riskant. Ihr Fleisch war durch und durch von Elohims Wut getränkt. Wenn sie davon aßen, würde er sie nur noch weiter verstoßen. Dann würden sie ganz gewiss nie mehr in den Garten zurückkehren können.
     
    Er weckte Eva. Sie roch den Birnenduft an seinen Händen. »Woher kommt dieser Geruch, Adam? Hast du gegessen?«
    Er zeigte ihr den Birnbaum. Aber er habe nichts davon gegessen, erklärte er. Weder er noch sie dürften die Birnen verzehren.
    Mit einem Satz war sie auf den Füßen. Sie lief zum Baum. Er folgte ihr.
    »Er hat uns verboten, die Frucht eines ganz bestimmten Baumes zu essen, Adam, nicht jede Frucht.«
    »Er hat uns verboten, von einem Baum zu essen, und du kannst sicher sein, dass er uns nicht aus dem Garten geworfen hat, damit wir gleich vom nächsten Baum essen. Ich sage dir, wir dürfen keine Früchte essen. Sie sind gefährlich. Wir können das nicht noch einmal riskieren, Eva.«
    Sie sah ihn ungläubig an. Der in ihrem Magen nagende Hunger leitete sie. Beim Duft der greifbar nahen Birnen konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie machte Anstalten, eine abzupflücken. Adam trat ihr in den Weg. Der Hund begann zu kläffen.
    »Du kannst mir nicht verbieten zu essen.«
    »Schau uns doch nur an, Eva, wir sind ausgehungert, schutzlos und mutterseelenallein. Welches Unglück willst du denn noch über uns bringen?«
    Eva spürte eine Hitze im Gesicht und in der Brust. Sie unterdrückte den Wunsch, sich vor lauter Wut und Enttäuschung auf Adam zu stürzen. Allein der Impuls erschreckte sie. Beschämt und verwirrt begann sie zu laufen. Fort, fort. Sie lief immer weiter und gewann in der sanften Brise des frischen Morgens ihre Fassung zurück.
    Adam lief hinter ihr her.
    »Wo willst du denn hin? Warum läufst du weg?«, rief er.
    Sie hielt inne.
    »Es macht mich wütend, dass du mich jedes Mal an die verbotene Frucht erinnerst, wenn ich dir gehorchen soll.«
    »Manchmal kann ich nicht anders vor lauter Verzweiflung«, sagte er.
    »Die Entscheidung zu essen hast du aus eigenen Stücken getroffen.«
    »Schon, aber du hast mir die Frucht hingehalten. Du hast damit angefangen.«
    »Ich wusste nicht, was geschehen würde. Und du hast es auch nicht gewusst.«
    »Wir wussten beide, dass wir sterben könnten.«
    »Aber wir sind nicht gestorben.«
    »Nicht auf der Stelle. Aber wir werden sterben.«
    »Du hast doch gesehen, dass Elohim uns nicht sterben lässt. Findest du nicht, es hat sich gelohnt, dass du und ich einander erkannt haben? Dass wir die herrliche Feige gekostet haben? Und das frische Wasser?«
    »Und den Hunger? Und die Schmerzen?«
    »Wir müssten keinen Hunger leiden, wenn du endlich aufhören würdest, solche Angst zu haben.«
     
    Als sie schon dicht an ihrer Höhle waren, kreiste über ihren Köpfen ein Schatten. Adam hob den Blick. Die Sonne blendete ihn so sehr, dass ihm für einen Moment schwarz vor Augen wurde, dann erkannte er vor dem schon blassblauen Nachmittagshimmel das prächtige Gefieder seines Lieblingsvogels, die riesigen orangefarbenen und goldenen Schwingen sowie den kleinen, von einem leuchtend blauen Federbusch gekrönten Kopf. Es war der Phönix.
    »Er ist der Einzige, der nicht mit uns vom Baum der Erkenntnis gegessen hat«, rief Eva aus. »Gewiss geht er im Garten ein und aus, ohne vom Feuer daran gehindert zu werden!«
    Adam fragte sich, ob das ein Zeichen war. Vielleicht würde der Phönix sie über den Abgrund hinweg in den Garten zurückbringen. Bei diesem Gedanken hätte er am liebsten einen Luftsprung gemacht und mit den Armen gewunken. Bevor die Frau erschienen war, hatte der Vogel ihn nämlich einmal durch die Lüfte bis zum Meer

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