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Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gioconda Belli
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und alle Farben, auch der Sitz der Erinnerungen würde sich auflösen, und man war allein, um reglos und wehrlos dabei zuzusehen, wie alles, was war oder gewesen sein könnte, verschwand.
    Sie war wütend über solch ein grausames Schicksal.
    Andererseits war es vielleicht an der Zeit, dass der Garten verschwand und sie ein für alle Mal die Wirklichkeit annahmen, für die sie geschaffen worden waren und in der sie leben mussten. Inmitten ihrer Verbitterung spürte sie die Klarheit von Elohims Gedanken ihr eigenes Denken durchdringen: Sie waren nicht der Anfang, sondern die Vollkommenheit am Ende, die er hatte sehen wollen, ehe er sich entschloss, ihnen die Freiheit zu geben, hörte sie ihn sagen. Eines Tages würden sich ihre Nachkommen aufmachen, um ins Paradies zurückzukehren.
    Eva sah, wie sich der Knopf an ihrem Bauch öffnete und daraus Glied um Glied hervorging: grobe Geschöpfe, die ihren Weg machten, ein Hindernis nach dem anderen überwanden auf der Suche nach der sanften Klarheit des Gartens, ein Bild, das sie, Eva, in deren Gedächtnis abgelegt hatte. Sie verstand die Dringlichkeit und die Hoffnung, die sich beim Anblick der unzähligen, wirren, noch schwer zu deutenden Bilder in ihr regten. Sie war soeben Zeugin davon geworden, wie ihre Nachkommen im Dunkeln tappten, wie sie den ganzen Kreis würden durchlaufen müssen, ehe sie den ersten Blick auf die Umrisse der Bäume tun könnten, unter denen sie ihren ersten Atemzug genommen hatte. Sehnsüchtig wünschte sie, sich und Adam diese perfekte kleine Parzelle erhalten zu können, die bis in alle Ewigkeit anklagend mit dem Finger auf sie zeigen würde. Gleichzeitig war ihr klar, dass es ihr nicht viel nützen würde, ihre Unschuld zu beteuern, denn ihre Schuld gehörte mit zum Plan Elohims und der Schlange.
     
    Sie kam wieder zu sich. Adam schüttelte sie.
    »Du hattest recht«, keuchte der Mann. »Er vernichtet den Garten. Wir können nie wieder zurückkehren, um vom Lebensbaum zu essen.«
    Der Mann schlang die Arme um ihre Taille und brach in ein haltloses Schluchzen aus. Er war immer so sicher gewesen, dass sie eines Tages in den Garten zurückkehren könnten. Nachdem er selbst getötet hatte, schreckte ihn der Tod, und seine innere Not hatte Nacht für Nacht zugenommen. Wenn er aufwachte, fuhr er mit den Händen an sich herab, füllte die Lungen mit Luft, vergewisserte sich des Erdengeruchs und tastete nach Eva an seiner Seite. Dann empfand er Dankbarkeit für das Licht, für das Wasser seiner Augen, für die Festigkeit seiner Haut, für seine Muskeln und seine Knochen, ja sogar für seine tierischen Körperregungen, die ihn erst so abgestoßen hatten. Und nun zwang Elohim ihn dazu, das Ende seiner Anfänge zu sehen. Genauso wie die Baumkronen würde sich auch sein Leben auflösen, Evas Leben und die Meere, Flüsse, das Feuer und der Phönix, alles, was seine Augen je erblickt hatten.
     
    Ohne sich abzusprechen war beiden klar, dass sie dableiben würden, bis sich der Garten vollständig aufgelöst hatte. Gebannt von dem Schauspiel ließen sie sich an einer Stelle zwischen den Steinen nieder und schwankten zwischen Staunen und Bestürzung. Die bunten Streifen flogen im Wind und zerfielen zu vertikalen Linien mit wechselnder Färbung; aus den Baumkronen erhoben sich Vogelschwärme himmelwärts und stoben in alle Richtungen davon; das Männchen und das Weibchen des Phönix nahmen den Weg zur Sonne. Ihre wunderschönen, rotgolden schimmernden Flügel flammten in der Ferne auf und füllten den Tag mit loderndem Licht. Eva hatte den deutlichen Eindruck, dass die Zeit stillstand, fragte sich aber, ob nicht vielmehr alles in einer schwindelerregenden Schnelligkeit geschah, während ihr und der ganzen umgebenden Natur der Atem stockte. Sogar die von den toten Hasen angelockten Insekten schienen reglos in der Luft zu stehen. Und als Adam sie mit einem Bündel Ähren vertrieb, kamen ihr seine Bewegungen unendlich langsam vor.
     
    »Eva, glaubst du nicht, dass wir noch ein allerletztes Mal hinüber können? Der Abgrund ist doch jetzt zu.«
    »Vom Lebensbaum ist aber kaum noch das Wurzelwerk übrig. Elohim weiß, dass wir nicht mehr davon essen können, um ewig zu leben«, erwiderte sie.
    »Ich will nicht sterben.«
    »Was haben die Hasen gemacht, als du sie getötet hast?«
    »Sie haben sich erst gewehrt, und dann haben sie stillgehalten und sich ergeben.«
    »Vielleicht ist es ja nicht mehr als das: sich wehren und sich am Ende ergeben.«
    »Und gibt es

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