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Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gioconda Belli
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los? Da, ganz weit hinten?, fragte sie. Sie bezweifelten, ob sie je erfahren würden, was sich in der Ferne verbarg.
    Adam legte den Arm um sie. Sie war kleiner, ihr Körper zierlicher. Und er fragte sich, warum. Er fragte sich auch, ob sie vielleicht recht gehabt hatte, als sie behauptete, sie wäre bei ihm, um ihn vor sich selbst zu schützen. Er fürchtete sich häufig, wenn er sie allein ließ. Ihn beunruhigte ihre Art zu träumen, wenn sie von seiner Seite wich, ohne sich zu rühren. Ihn überraschten ihre Augen, die für ihn nicht erkennbare Zeichen sahen, und ihre Haut, die wie die Nase von Hund und Katze die Ereignisse voraussagte. Wenn er sie nachts im Schlaf beobachtete, überkam ihn oft der Drang, sie aufzuwecken und ihr weh zu tun. Er wusste nicht, wohin mit seinem Groll darüber, dass sie auf eine besondere Weise mit der Erde verbunden war, wie ein Baum ohne Wurzeln, und er nicht.
    Er wunderte sich, dass sie so wenig Reue zeigte, von der Frucht gegessen zu haben, dass sie beharrte, es nicht gewesen zu sein: Der Andere, so behauptete sie, habe es so eingerichtet. Mit dieser Begründung weigerte sie sich, ihren Teil der Schuld anzuerkennen – ihre verhängnisvolle Neugier! Sie könnte sie beide erneut in Gefahr bringen, wenn sie darauf bestand, sich noch mehr vom Garten zu entfernen, weil sie doch ohnehin nie mehr dorthin zurückkehren würden. Er konnte und wollte das nicht akzeptieren. Mehr als vor Katastrophen und vor dem Unbekannten fürchtete er sich vor sich selbst und vor dem, wozu er bereit war, um in dieser feindlichen Welt zu überleben. Er hatte Angst vor seinem eigenen Hunger und vor der ungezügelten Kraft, mit der er einen Hasen nach dem anderen getötet hatte, indem er ihnen den Kopf mit einem Stein zertrümmerte. Man musste grausam sein, um zu töten. Da hatte sie gar nicht so unrecht.
     
    Sie kannten den Weg zum Garten auswendig, was ihnen erlaubte, ihren Gedanken nachzuhängen, während sie inmitten goldener Weizenähren einen Fuß vor den anderen setzten. Von dem Brot, das deren Körner verhießen, ahnten sie nichts.
    Der in der Ferne vom Wind verteilte Dunst legte sich über das Tageslicht, das matter wurde und die Umrisse der Landschaft verschwimmen ließ. Wie jedes Mal, wenn sie sich dem Garten näherten, drang durch ihre Füße die Traurigkeit in sie ein, nahm von ihnen Besitz und kroch wie eine Schlingpflanze in ihrem Körper hoch. Die Wehmut tauchte ihre Erinnerungen dann in die schönsten Farben und umspielte sie mit den schweren, süßen Wohlgerüchen von ehedem.
     
    Diesmal war es Adam, der zuerst die Veränderungen wahrnahm. Eva ging mit gesenktem Kopf hinter ihm her und versuchte, ihren Ekel vor dem Gestank des toten Hasen auf Adams Schulter zu unterdrücken. Als sie seine Stimme vernahm, hob sie den Kopf.
    »Er verschwindet! Eva, er verschwindet!«, rief er entsetzt.
    Eva schaute hin. Sie drohte in Ohnmacht zu fallen, als der Schock über das, was sie sah, sich zu ihrer Übelkeit gesellte. Sie schwankte leicht. Adam war sofort bei ihr und fing sie auf. Auf seinen Arm gestützt, sah sie einen breiten Lichtstrahl, in dem sich, wie unter dem Sog einer übernatürlichen Kraft, der Abgrund schloss und die Erde wieder eins wurde. Gleichzeitig begann das, was der Garten gewesen war, aufzusteigen und sich in einem leuchtenden Nebel aufzulösen, als wallte aus den Tiefen der Erde die Hitze einer verborgenen Quelle auf, die alles verdampfen ließ: Bäume, Blätter, Orchideen, Schlingpflanzen … Die langgestreckten Silhouetten der Pflanzen zogen in senkrechten grünen Bahnen bis zum Himmel hinauf und hinterließen einen blassen Abglanz in Rot, Blau, Violett und Gelb, als folgte der Garten plötzlich einer noch unbestimmten Berufung zum Regenbogen. Während die Baumstämme und Sträucher in Bodennähe noch die vertrauten Umrisse zeigten, hoben das gewaltige helle Astwerk des Lebensbaumes und das dunklere des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse sowie Laub und Farben der höchsten Baumwipfel schon vom Grund ab und fielen, einem auf dem Kopf stehenden Regen gleich, in allen Grüntönen schillernd, zitternd und vibrierend nach oben. Das Ganze sah aus wie das Bild eines Teiches, den jemand sanft ruckelnd in den Himmel zog.
     
    Eva öffnete und schloss die Augen, um sich zu vergewissern, dass die Vision nicht von ihrer Ohnmacht rührte. Sie kannte das Wort »Lebewohl« nicht, aber sie spürte es. Sie dachte, dass so der Tod sein müsste, der ihnen angekündigt war. Die Landschaft

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