Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gioconda Belli
Vom Netzwerk:
wie lange sie in der Höhle gelegen und vor sich hin gedämmert hatte. Er sagte nur, er habe viele Nächte auf ihre Wiederkehr von dem Ort gewartet, wo sie hingegangen sei. In der Zwischenzeit war es kalt geworden, und die Blätter fielen gelblich und verwelkt von den Bäumen auf die Erde. Vielleicht würde jetzt ihre gesamte Umgebung vergehen, zerrinnen und sich auflösen, genauso wie der Garten. Die Landschaft lag gleichsam dahinschwindend vor ihnen. Das Pflanzengrün verblasste, und das Sonnenlicht ließ sich nur schüchtern darauf nieder.
    »Was machen die Tiere? Hast du sie gesehen?«
    »Aus der Ferne. Sie nähern sich, aber nur nachts. Ich höre sie vor der Höhle atmen. Ich kann sie hören, aber nicht verstehen.«
    »Hast du Angst?«
    »Ich habe Angst, dass sie vorhaben, mich zu fressen – dasselbe, was ich mit ihnen vorhabe. Wenn ich ein größeres Tier erlegen könnte, dann bräuchte ich nicht jeden Tag loszuziehen, um Fasane und Hasen zu jagen. Das wird auch immer schwieriger, wahrscheinlich kennen sie schon meine Tricks, um sie zu kriegen.«
    »Ich weiß nicht, wie du das machst. Ist es das gute Gefühl, stärker und schlauer zu sein als sie?«
    »Ja. Ich weiß, was ich tun muss, und das erstaunt mich. Ich stehe vor einer Schwierigkeit, und sobald ich eine Weile darüber nachgedacht habe, weiß ich plötzlich die Lösung. Ich sehe die Möglichkeiten, probiere sie aus, und eine davon geht immer.«
    »Dann treibt dich etwas anderes als das Töten.«
    »Töten! Darum geht es gar nicht. Es geht ums Überleben. Ich bin kleiner als viele Tiere, aber ich bin im Vorteil, weil ich viele ihrer Bewegungen voraussehen kann. Sie haben keine Vorstellungskraft, weißt du. Und ich glaube, dass die es ist, die uns mehr als die Worte von ihnen unterscheidet. Die Vorstellungskraft und die Traurigkeit, Eva. Es tut mir weh, wenn ich daran denke, dass die Tiere im Garten meine Freunde waren und ich jetzt nur noch darüber nachdenke, wie ich sie jagen kann. Du glaubst, dass das für mich nicht schwer wäre. Aber das stimmt nicht.«
    »Ist es draußen vor der Höhle kalt, Adam? Glaubst du, dass die Sonne ausgeht?«
    »Ich glaube, dass die Welt traurig geworden ist, weil der Garten weg ist. Hoffentlich geht die Sonne nicht aus, Eva. Wir müssen Elohim mehr Opfer bringen, damit er sich unser erbarmt.«
     
    Sie erreichten den Fluss. Die Pflanzen an den Ufern waren noch üppig grün. Der Strom war dunkler und sehr kalt. Eva setzte sich ins Gras und begann auf einem Halm herumzukauen. Beißen, kauen, essen – bald würde auch sie den Forderungen des Hungers nachgeben müssen. Sie würde aufhören, Adam zu verurteilen, so wie die Schlange ihr geraten hatte. Was war schlimmer, der Hunger oder der Tod? Die Knochen schwammen in ihrem Körper und waren durch die Haut zu sehen. Sie konnte die einzelnen Rippenbögen erkennen, die Knoten an ihren Hüften und Knien. Nur ihr Bauch war geschwollen. Es würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als genauso zu leben wie die anderen Tiere auch, die sich gegenseitig auffraßen. Aber gab es nicht genauso viele, die einfach nur weideten? Sie war nicht dazu geschaffen, den ganzen Tag Gras zu essen wie sie. Das vertrug ihr Magen nicht. Sie hatte jedes Mal diesen bitteren grünen Brei erbrochen, wenn sie die Stengel und Blumen gegessen hatte, die Adam ihr brachte, weil er beobachtet hatte, dass sich Rotwild, Gazellen und Schafe davon ernährten.
    Sie stand auf und ging zum Wasser. Langsam ließ sie sich in die Strömung gleiten. Die Arme vor der Brust verschränkt und mit angehaltenem Atem tauchte sie ins eisige Wasser ein. Die Empfindung war schneidend und schmerzhaft, aber zugleich genussvoll. Ihr Körper zog sich zusammen, aber er wurde auch geweckt, und ihr Blut floss schneller. Sie stieß sich mit Händen und Füßen ab und paddelte ein Stück. Ihr langes Haar umfloss sie auf der Wasseroberfläche. Ein silberner Fisch näherte sich und begann, in den dunklen Strähnen umherzuschwimmen. Hinein und hinaus wie zwischen den Ranken einer unterirdischen Pflanze. Dem kleinen Fisch folgten andere. Mit einem Mal war Eva von einem ganzen Schwarm glänzender kleiner Fische umgeben, die furchtlos auf sie zuschwammen und ihre Haut berührten.
    Ohne darüber nachzudenken, hob sie die Hand und strich einem der größten über den Rücken. Das Tier ließ sie gewähren und kehrte, nachdem es eine Runde geschwommen war, für weitere Liebkosungen zu ihr zurück. Sie machte den Versuch, einen festzuhalten, und der

Weitere Kostenlose Bücher