Unendlichkeit in ihrer Hand
reinigte sie vom Staub und vom muffigen Geruch. Eva warf dem Mann einen Blick zu und wusste, dass er dasselbe dachte wie sie: an den Augenblick, in dem er wusste, dass er ward, und an den Moment, als sie an seiner Seite erwachte und sie sich als Mann und Frau erkannten. Darüber sprachen sie nie, aber manchmal tauschten sie einen Blick, der ihnen das Vorhandensein jener Erinnerungen im anderen bestätigte. Sie ließen sich in der Sonne trocknen. Sie hatten die aufrechte Haltung und die glücklichen Augen ihrer ersten Existenz zurückerlangt. Adam fragte sich, wie viele Tage es wohl geregnet haben mochte, während sie noch dalagen und träumten zu sterben, denn die Welt um sie herum erstrahlte neu in üppigem Grün. Als der Regen nachließ, blies der Wind die Wolken weg, und über ihnen leuchtete der tiefblaue Himmel eines strahlenden Sonnentages.
Eva durchquerte auf Adams Arm gestützt die Pfützen, die das Wasser wie glänzende Augen auf der Erde hinterlassen hatte. Nicht nur die Landschaft hatte sich von der Kälte erholt, auch die zuvor starren und rußgeschwärzten Zweige des Feigenbaumes waren jetzt dicht belaubt und schienen ohne jede Spur von jenem Zwischenfall auferstanden zu sein. Der Baum hing prall voll mit dicken, saftigen Früchten. Sie lasen sie von den Ästen ab und begannen zu essen. Der Geschmack barg die Erinnerung an ihren letzten Tag im Garten, aber auch die ihrer ersten körperlichen Begegnung. Adam vertrieb den für einen Moment in ihm aufflackernden Groll, als er an Evas zierliche, perfekte Hand dachte, die ihm die verbotene Frucht hingehalten hatte. Seine hartnäckige Wehmut wich der Erleichterung, am Leben zu sein und zuzuschauen, wie die Farben der Welt ihre Leuchtkraft zurückerlangten.
Er half ihr ein Stück den Berg hinauf, von wo sie einen Blick auf die Ebene werfen konnten und die sprießenden jungen Weiden sahen sowie Unmengen von friedlich grasenden Tieren. Eva zeigte mit dem Finger auf Ziegen und Pferde, auf das Rotwild, die Antilopen und Schafe. Dicht bei ihnen hüpften und grasten Geschöpfe, die ihnen aufs Haar glichen, nur sehr viel kleiner waren.
»Deine Zeit ist bald da.« Die Schlange lag eingerollt auf dem Ast eines Busches.
»Du!«, rief Eva.
»Ich habe den ganzen Winter geschlafen. Was für ein langer Traum. Eine Menge verlorene Zeit.«
»Wird die Kälte wiederkommen?«
»So pünktlich wie der Hunger, aber vorher werden die Pflanzen neu geboren, und es wird sehr heiß werden. Der Winter kommt, nachdem die Blätter abgefallen sind.«
»Was für eine Zeit, sagst du, ist für mich bald da?«
»Ahnst du es denn nicht?«
»Was wird aus mir herauskommen?«
»Zwillinge, Eva. Ein Junge und ein Mädchen. Sohn und Tochter. So heißen die Kinder, die aus dir und aus deinen Nachkommen hervorgehen werden.«
»Söhne und Töchter«, wiederholte Eva.
»Wann werden sie kommen?«, wollte Adam wissen.
»Schon sehr bald.«
»Und wie?«
»Unter Schmerzen.«
Eva warf der Schlange einen grimmigen Blick zu. Schon wieder Schmerzen? Hatten sie denn mit Hunger und Kälte nicht genug gelitten?
»Tut mir leid, Eva. Ich dachte, ich sollte dich warnen. Elohim hat es so eingerichtet. Ich weiß auch nicht, warum er diesen Hang zum Schmerz hat. Vielleicht würde er ihn ja selbst gerne einmal spüren. Jedenfalls scheint er zu glauben, körperliche Schmerzen wären leichter zu ertragen.«
»Glaubst du, dass er leidet?«
»Ich denke mir, dass er nichts erschaffen hat, was er selber nicht kennt.«
»Aber vielleicht kennt er es nur in der Vorstellung und kann fremde Schmerzen gar nicht einschätzen.«
»Reg dich nicht auf. Das tut dir nicht gut. Ich gehe jetzt. Es war nicht meine Absicht, euch den Frühling zu vermiesen.«
Sie entrollte den langen goldenen Leib, glitt vom Ast zu den Steinen hinunter und verschwand.
Adam fühlte sich wie ein Eindringling in Evas bekümmerter Stimmung. Der Himmel über ihnen war so weit und so strahlend, dass es ihm schwerfiel, an Schmerzen zu denken. Wahrscheinlich sei es das Beste, gar nicht darüber nachzudenken, sagte er zu Eva. Wenn doch die Tiere ihre Jungen bekamen, wieso sollte ihr das dann Schwierigkeiten bereiten?
»Ich bin kein Tier, Adam.«
»Genau«, pflichtete er ihr versöhnlich bei, »deshalb wird es dir noch besser gelingen als ihnen.«
Eva beschloss, Adams Rat zu befolgen und nicht an den Schmerz zu denken. Sie stiegen den Hügel wieder hinunter und gingen gemächlich zum Fluss. Unter dem zarten, lichten Grün der
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