Unendlichkeit in ihrer Hand
ist, falls jemand kommt, während wir schlafen.«
»Und du, Adam, fühlst du nichts?«
»Ich habe Angst, Eva. Ich frage mich, ob wir eines Tages etwas anderes tun werden, als nur daran zu denken, wie wir es schaffen können, unseren Hunger zu stillen und nicht vor Kälte umzukommen. Ich kann an gar nichts anderes denken.«
In der gefrorenen Winterwelt war Adam gezwungen, um die Beute herumzuschleichen, die von anderen Tieren liegenblieb, und sich mit den Geiern um die Überreste zu streiten. Manchmal fand er überraschend zwischen den Knochen vollständige Fleischpartien. Er stellte sich vor, dass die großen Fleischfresser wie Tiger, Bären und Löwen in der Stille ihres Gedächtnisses die Verbindung zu ihm aufrechterhielten, die er im Garten zu ihnen hergestellt hatte, und dass dies ihre Art war, ihm zu zeigen, dass nicht alles vergessen war. Er freute sich über die Funde, aber er weinte auch. Beim Gedanken an das Essen lief ihm das Wasser im Mund zusammen, und gleichzeitig trauerte er. Er erinnerte sich daran, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der er sich nie und nimmer eine Welt hätte vorstellen können, wo die Geschöpfe sich gegenseitig bedrohten und für ihr nacktes Überleben gezwungen waren, einander zu misstrauen. Er weinte, während er sich hemmungslos satt aß. Er stöhnte, geschwächt vom tagelangen Hungern, und riss das Fleisch vom Gerippe, elend, gedemütigt und zugleich glücklich, dass er zur Höhle zurückkehren würde und für Eva, die Katze und den Hund etwas Essbares mitbrachte.
Aufgeregt sah sie ihm entgegen, wenn er zurückkam. Der Hunger trieb sie schließlich dazu, von allem zu kosten, ganz gleich, was er gefunden hatte. Sie stellte keine Fragen mehr. Sie legte die Fleischstücke ins Feuer und aß fast atemlos. Nicht selten verfluchte sie Elohim, während sie kaute. Ihr behäbiger Körper untersagte ihr, Adam zu begleiten, so dass sie sich damit begnügen musste, morgens hinauszugehen und Reisig für das Feuer zu sammeln und untertags aus den Fellen Hüllen zu nähen, damit sie etwas hatten, um sich gegen die Kälte zu schützen.
Die Einsamkeit tat ihr jedoch gut. Es machte ihr nichts aus, allein zu bleiben, solange sie darauf vertraute, dass er zurückkam, und daran wollte sie lieber nicht zweifeln. Trotz der Hyänen war Adam in Sicherheit. Hab keine Angst, sagte sie zu ihm, die Hyänen sind fort. Ich habe keine Angst, erwiderte er. Du bist es, die sich noch nicht von dem Schrecken erholt hat. Eva gab zu, dass aus ihr die eigene Angst sprach. Die Begegnung mit den Hyänen war in ihrer Erinnerung fest verknüpft mit dem Schock darüber, dass ihre Verbundenheit mit den Tieren vorbei war und sie nun gezwungen waren, Dinge neu kennenzulernen, die sie für bekannt gehalten hatten. Wenn sie so allein in der Höhle war, wurde sie bisweilen von Traurigkeit überflutet. Immer wieder zog das Erlebte an ihrem inneren Auge vorüber, und sie erinnerte sich an die Überlegungen, die sie dazu getrieben hatten, in die Feige zu beißen. Ihre Visionen und die Überzeugtheit, mit der sie an eine Geschichte geglaubt hatte, die sie in Gang setzen würde, all das erfüllte sie mit Kummer, und sie war wütend auf sich selbst. Die Landschaft rundum erinnerte sie zwar bisweilen an die Schönheit des Gartens Eden, aber der Schmerz einer blutenden Wunde wurde dadurch nicht besser. Mit Hunger und Durst und Kälte war die Schönheit nicht mehr dieselbe.
Aus dem Bedürfnis, ihre Traurigkeit loszuwerden, entdeckte sie an einem ihrer langen Tage eine Möglichkeit, dieser Gestalt zu geben und sie anzuschauen. Von da an schien sogar die Niedergeschlagenheit ihre Seinsberechtigung zu haben.
Eva stellte nämlich fest, dass sie mit den halbverkohlten Holzscheiten aus dem Feuer schwarze Linien über die Höhlenwände ziehen konnte. Zunächst erprobte sie die Wirkung noch zögernd an einer eher glatten Stelle. Ihre ungeschickten ersten Striche wurden im Laufe der Tage fließender. Während sie Bilder aus ihrem Gedächtnis an die Wände malte, strömte eine unbekannte Wärme durch ihren Arm, und sie fing Feuer. Ihre Hand legte jede Zurückhaltung ab, und die Kohle flog über die Wände und zeichnete eine Figur nach der anderen. So lernte Eva ein neues, unerklärliches Glück kennen, das nebenbei bewirkte, dass sie sich weniger einsam fühlte. Was in ihr verborgen lag, kam ans Licht und leistete ihr Gesellschaft. Später malte sie andere Gestalten wie den Hirsch, den sie zwischen den Bäumen erspäht hatte, und den
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