Unendlichkeit
ging entsetzlich langsam. Vier Milizsoldaten lagen mit Widerhaken im Gesicht auf dem Boden. Einer hatte die Sitzreihen erreicht und versuchte, der Schützin ihre Pistole zu entwinden. Ein anderer eröffnete mit seiner eigenen Waffe das Feuer auf Janequins Vögel und mähte sie nieder.
Girardieu begann zu stöhnen. Er verdrehte die blutunterlaufenen Augen und griff mit den Händen ziellos ins Leere.
»Wir müssen hier raus«, schrie Sylveste Pascale ins Ohr. Sie hatte den Schock des Neuraltransfers noch nicht überwunden und nahm nur undeutlich wahr, was um sie herum vorging.
»Aber mein Vater…«
»Ihm ist nicht mehr zu helfen.«
Sylveste ließ Girardieus schweren Körper auf den kalten Fußboden des Tempels sinken, achtete dabei aber sorgsam darauf, im Schutz des Tisches zu bleiben.
»Die Widerhaken sind tödlich, Pascale. Wir können nichts für ihn tun. Wenn wir hier bleiben, ereilt uns nur das gleiche Schicksal.«
Girardieu stieß ein Krächzen aus, vielleicht ein ›Geht!‹, vielleicht auch nur ein letzter Atemzug.
»Wir können ihn nicht zurücklassen!«, sagte Pascale.
»Wenn wir es nicht tun, überlassen wir seinen Mördern den Sieg.«
Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Wo sollen wir denn hin?«
Er sah sich hektisch um. Girardieus Leute hatten offenbar Schockgranaten geworfen. Jetzt schwebte der Rauch wie die Schleier einer Tänzerin in trägen, pastellfarbenen Spiralen herab und breitete sich im ganzen Raum aus. Bevor er die Sicht zu sehr behindern konnte, wurde es mit einem Schlag stockdunkel. Anscheinend hatte jemand die Lichter außerhalb des Tempels ausgeschaltet oder zerschossen.
Pascale keuchte erschrocken auf.
Sylvestes Augen schalteten fast von selbst auf Infrarotsicht.
»Ich kann noch sehen«, flüsterte er ihr zu. »So lange wir zusammen bleiben, brauchst du die Dunkelheit nicht zu fürchten.«
Sylveste richtete sich langsam auf. Er konnte nur hoffen, dass die Gefahr durch die Vögel gebannt war. Die Wärmestrahlung des Tempels war graugrün. Die Frau mit dem Parfüm war tot, in ihrer Seite klaffte ein faustgroßes warmes Loch. Der bernsteinfarbene Flakon lag zerbrochen zu ihren Füßen. Vermutlich hatte er ein Triggerhormon enthalten, für das Janequins Vögel subtile Rezeptoren hatten. Janequin musste mit im Komplott gewesen sein. Sylveste suchte nach ihm – aber der Genetiker war tot. In seiner Brust steckte ein kleiner Dolch und aus der Wunde flossen warme Rinnsale über seinen Brokatmantel.
Sylveste fasste Pascales Arm und schob sie auf den Ausgang zu, einen Torbogen, der mit vergoldeten Amarantin-Figuren und Schriftzeichen in Relieftechnik geschmückt war. Die Frau mit dem Parfüm war, wenn man von Janequin absah, offenbar als einzige von den Attentätern am Schauplatz gewesen. Jetzt erst kamen ihre Freunde in Chamäleo-Anzügen, mit dichten Atemmasken und Infrarotbrillen.
Er schob Pascale hinter mehrere umgestürzte Tische.
»Sie suchen nach uns«, zischte er. »Aber wahrscheinlich halten sie uns für tot.«
Wer von Girardieus Sicherheitsleuten überlebt hatte, war zurückgewichen und hatte sich zwischen den fächerförmig angeordneten Zuschauerbänken verschanzt. Sie hatten keine Chance: die Neuankömmlinge hatten viel stärkere Waffen, schwere Boser-Gewehre. Girardieus Miliz mit ihren schwachen Lasern und Projektilwaffen leistete tapfer Widerstand, aber die Verschwörer schossen sie rücksichtslos und ohne große Mühe nieder. Von den Hochzeitsgästen waren mindestens die Hälfte bewusstlos oder tot; sie hatten die meisten Giftpfeile abbekommen. Die Pfauen waren zwar keine sonderlich präzise arbeitende Mordwaffe gewesen – aber sie hatten sich völlig ungehindert im ganzen Raum bewegen können. Sylveste bemerkte, dass immer noch zwei von ihnen am Leben waren – entgegen seinen Erwartungen. Die Parfum-Moleküle in der Luft hatten ihre Wirkung nicht verloren: die Vögel klappten ihre Schweife auf und zu wie nervöse Kurtisanen ihre Fächer.
»Hatte dein Vater eine Waffe bei sich?«, fragte Sylveste und bedauerte sofort, die Vergangenheitsform verwendet zu haben. »Ich meine, seit dem Umsturz.«
»Ich glaube nicht«, sagte Pascale.
Natürlich nicht. Das hätte ihr Girardieu niemals anvertraut. Rasch tastete Sylveste den reglosen Körper ab. Vielleicht fand sich unter dem Festgewand eine Ausbuchtung in Form eines gepolsterten Halfters.
Nichts.
»Dann müssen wir uns ohne Waffe behelfen«, sagte Sylveste, als wäre das Problem einfacher zu lösen, wenn er es
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