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Unendlichkeit

Unendlichkeit

Titel: Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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gequollen, sondern mit der Wucht eines Vulkans explodiert, um dann in einem Lichtblitz zu erstarren. Er breitete sich parallel zur Wand nach allen Richtungen aus und reichte Dutzende von Metern weit in die Korridore hinein. In unmittelbarer Nähe bestanden die Wucherungen aus baumdicken Zylindern, die wie Quecksilber in allen Farben schillerten. Ihre Oberfläche war wie rauer, mit Edelsteinen besetzter Mörtel, der ständig blitzte und funkelte, als ginge es darunter zu wie in einem Bienenstock. Zur Peripherie hin unterteilten sich die Äste immer weiter und bildeten schließlich ein bronchienartiges Geflecht, das ganz am Rand mikroskopisch fein wurde und nahtlos in das Trägermaterial – das Schiff selbst – überging. Hier waberten die Brechungsmuster wie ein Ölfilm auf dem Wasser.
    Der Captain bildete einen silbrig glänzenden Hintergrund, vor dem die silbernen Servomaten nahezu unsichtbar waren. Sie hatten sich zu beiden Seiten des zerstörten Kälteschlaftanks, nicht mehr als einen Meter von dem gesprengten Panzer entfernt, dicht neben seinem Herzen postiert. Hier war es immer noch kalt – hätte Sylveste den Tank des Captains berührt, er wäre daran hängen geblieben, und die chimärische Masse des Seuchengewebes hätte sein Fleisch bald in sich aufgenommen. Zur Operation selbst würden sie den Captain erwärmen müssen, um überhaupt arbeiten zu können. Das würde den Verfall beschleunigen – anders ausgedrückt, die Seuche würde die Gelegenheit nützen, um ihre Umgebung noch schneller zu transformieren –, aber nur so konnte man an ihm arbeiten. Bei seiner jetzigen Temperatur würden alle bis auf die primitivsten Instrumente sofort stumpf und damit unbrauchbar werden.
    Jetzt fuhren die Maschinen Teleskoparme mit Sensoren an der Spitze aus: magnetische Resonanz-Scanner, die tief in das Seuchengewebe eindrangen und zwischen mechanischen, chimärischen und ehemals menschlichen organischen Schichten unterscheiden konnten. Sylveste ließ sich von den Drohnen alle Daten an seine Augen übermitteln. Die Bilder überlagerten den Captain wie ein lilafarbener Schleier. Nur mit Mühe konnte er die letzten Umrisse der menschlichen Larve erkennen, aus der sich dieses Gebilde entwickelt hatte; sie zeichneten sich ab wie ein Geisterbild unter den neuen Farbschichten auf einer wiederverwendeten Leinwand. Aber je tiefer die Resonanz-Scanner vordrangen, desto schärfer wurden die Konturen. Die bizarre Anatomie des Seuchenopfers schälte sich heraus. Nun war das Grauen kaum noch zu ertragen. Aber Sylveste konnte den Blick nicht abwenden.
    »Wo sollen wir – ich meine, wo willst du anfangen?«, fragte er, ohne Calvin anzusehen. »Heilen wir einen Menschen oder sterilisieren wir eine Maschine?«
    »Keines von beiden«, sagte Calvin trocken. »Wir helfen dem Captain, und ich fürchte, er hat den einen wie den anderen Zustand hinter sich gelassen.«
    »Bewundernswert klar erkannt«, sagte Sajaki und zog sich aus der Kältezone zurück, damit Sylveste freie Sicht hatte. »Es geht nicht mehr um Heilung oder um Reparatur. Ich ziehe den Begriff Rekonstruktion vor.«
    »Erwärmen Sie ihn«, verlangte Calvin.
    »Wie?«
    »Sie haben schon richtig gehört. Ich will, dass er erwärmt wird – nur vorübergehend, keine Sorge. Aber doch so lange, dass wir einige Gewebeproben entnehmen können. Volyova hat sich bei ihren Untersuchungen meines Wissens auf die Peripherie des verseuchten Gewebes beschränkt. Sie war sehr fleißig und hat gute Arbeit geleistet; die von ihr entnommenen Proben geben nicht nur wertvolle Hinweise auf das Wachstumsverhalten, sie waren natürlich auch unentbehrlich für die Entwicklung des Retrovirus. Aber jetzt müssen wir in den Kern vordringen; dorthin, wo noch lebendes Fleisch ist.« Er lächelte. Der angeekelte Ausdruck, der über Sajakis Gesicht huschte, bereitete ihm ein diebisches Vergnügen. Vielleicht ist doch eine gewisse Empathie vorhanden, dachte Sylveste – zumindest ein verkümmerter Rest dessen, was einmal war. Für einen Moment fühlte er sich dem Triumvir verwandt.
    »Was interessiert Sie daran so sehr?«
    »Seine Zellen natürlich.« Calvin spielte mit den Schnörkeln an seinen Armlehnen. »Man sagt, die Schmelzseuche zerstört unsere Implantate, indem sie die Replikationsfunktionen angreift, und vermengt sie mit dem Fleisch. Ich denke, es geht noch weiter. Ich denke, die Seuche strebt nach Hybridisierung – sie versucht, ein Gleichgewicht zwischen Leben und Cybernetik zu finden. Genau das

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