Unendlichkeit
aufgelöst. Dann wurden die physikalischen und chemischen Eigenschaften analysiert und die gewonnenen Informationen in den biochemischen Speicher des Ozeans integriert. Lascaille hatte unterstellt, dass die Schieber solche Muster nicht nur verschlüsseln, sondern auch übertragen konnten. Vermutlich hatten sie auch die geistigen Strukturen anderer Gattungen gespeichert, die mit ihnen in Berührung gekommen waren – zum Beispiel die der Schleierweber.
Menschliche Forschungsteams beschäftigten sich seit Jahrzehnten mit den Musterschiebern. Wenn ein Mensch in einem schieberdurchsetzten Meer schwamm, konnte er mit dem Organismus in psychischen Kontakt treten. Die Schieber führten Mikrofäden in den menschlichen Neokortex ein und stellten so quasi-synaptische Verbindungen zwischen dem Bewusstsein des Schwimmers und dem Rest des Ozeans her. Für den Menschen war es, als kommuniziere er mit empfindungsfähigen Algen. Geübte Schwimmer berichteten, ihr Bewusstsein hätte sich über den gesamten Ozean ausgebreitet, und sie hätten ein üppig wucherndes, bis in Urzeiten zurückreichendes Gedächtnis entwickelt. Die Grenzen ihrer Wahrnehmung seien fließend geworden, aber sie hätten in keiner Phase das Gefühl gehabt, als sei sich der Ozean seiner selbst bewusst. Er sei eher mit einem Spiegel zu vergleichen, der das menschliche Bewusstsein in allen Einzelheiten reflektiere: Solipsismus in letzter Konsequenz. Die Schwimmer gelangten zu überraschenden mathematischen Einsichten, so als habe der Ozean ihre Kreativität gesteigert. Einige meldeten sogar, diese Schübe hätten noch eine Weile nach dem Verlassen der Ozean-Matrix und der Rückkehr auf das Festland oder in den Orbit angehalten. Womöglich sei ihr Bewusstsein sogar physikalisch verändert worden?
So entstand der Begriff des Schieber-Transforms. Durch eine Zusatzausbildung lernten die Schwimmer, bestimmte Transformationen auszuwählen. Auf der Schieberwelt stationierte Neurologen versuchten, die von den Aliens bewirkten Gehirnveränderungen zu beschreiben, hatten aber nur Teilerfolge zu verzeichnen. Die Transformationen waren außergewöhnlich subtil, das Gehirn wurde nicht auseinandergerissen und neu zusammengesetzt, sondern eher umgestimmt wie eine Geige. Sie waren auch meist nicht von Dauer – nach Tagen, Wochen, selten auch erst nach Jahren verschwanden sie wieder.
So weit war die Wissenschaft gekommen, als Sylvestes Expedition die Schieberwelt Spindrift erreichte. Jetzt fiel ihm natürlich alles wieder ein – die Ozeane, die Gezeiten, die Vulkanketten und der durchdringende Tanggeruch des Organismus. Dieser Geruch öffnete alle Türen. Die vier Kandidaten für eine Delegation zu den Schleierwebern hatten sich die Kreidezeichnung tief ins Bewusstsein eingeprägt. Nachdem sie monatelang mit guten Schwimmern trainiert hatten, stiegen sie in den Ozean und vergegenwärtigten sich die Form, die ihnen Lascaille gegeben hatte.
Dann drang der Schieberorganismus ein, löste Teile ihres Bewusstseins auf und strukturierte sie nach seinen eigenen integrierten Schablonen um.
Als die vier wieder auftauchten, hatte es zunächst den Anschein, als sei Lascaille doch verrückt gewesen.
Sie legten weder fremde oder erschreckende Verhaltensweisen an den Tag, noch hatten sie plötzlich alle Antworten auf die großen Rätsel des Universums gefunden. Auf Befragen versicherten sie, ihr Befinden sei mehr oder weniger unverändert und sie hätten auch keine neuen Erkenntnisse über die Identität oder das Wesen der Schleierweber gewonnen. Aber empfindliche neurologische Tests drangen weiter in die Tiefe vor als die menschliche Intuition. Das räumliche Denken und die kognitiven Fähigkeiten der vier hatten sich verändert, allerdings war die Art der Veränderung unglaublich schwer zu messen. In den folgenden Tagen berichteten die Versuchspersonen von widersprüchlichen Gemütszuständen, die ihnen zugleich vertraut und vollkommen fremd waren. Dass sich etwas verändert hatte, war offensichtlich, aber niemand wusste, ob diese seltsamen Anwandlungen in irgendeiner Weise mit den Schleierwebern zu tun hatten.
Dennoch tat Eile not.
Sobald die ersten Tests abgeschlossen waren, versetzte man die vier Kandidaten in Kälteschlaf. Die Kälte bewahrte die Schieber-Transforme, aber sie würden unweigerlich zerfallen, wenn die Versuchspersonen geweckt wurden, obwohl man dem Prozess mit einer ausgefeilten Therapie mit noch ungeprüften Neurostabilisatoren entgegenzuwirken suchte. Die
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