Unendlichkeit
bevorstehenden Zeremonie ab.
Je länger er hinsah, desto sicherer war er, dass sein erster Eindruck falsch gewesen war. Die geflügelte Gestalt war doch ein Amarantin oder, genauer gesagt, eine Mischung aus Amarantin und Engel, geschaffen von einem Künstler mit fundierten Vorstellungen davon, was es aus anatomischer Sicht bedeutete, Flügel zu haben. Ohne die Zoomfunktion seiner Augen hatte die Statue eine geradezu schockierende Kreuzform. Schaltete er die Vergrößerung ein, so wurde aus dem Kreuz ein Amarantin, der mit prachtvollen, weit ausgebreiteten Schwingen auf der Turmspitze thronte. Die Schwingen waren aus verschiedenfarbigen Metallen zusammengesetzt und jedes Federchen schillerte in einem etwas anderen Farbton. Wie bei menschlichen Engelsabbildungen waren die Flügel nicht einfach Ersatz für die Arme des Wesens, sondern ein selbständiges, drittes Gliedmaßenpaar.
Doch die Statue wirkte realistischer als alle Engel menschlicher Künstler, die Sylveste jemals gesehen hatte. Sie wirkte – so absurd das auch scheinen mochte – anatomisch korrekt. Der Bildhauer hatte der amarantinischen Grundform nicht einfach Schwingen aufgepfropft, sondern den elementaren Körperbau dezent verändert. Die zum Greifen eingerichteten Vordergliedmaßen waren am Rumpf etwas tiefer angesetzt und zum Ausgleich dafür verlängert worden. Der Brustkorb war viel mächtiger als normal und wurde im Schulterbereich von einer massiven Jochkonstruktion aus Knochen und Muskeln dominiert. Aus diesem Joch wuchsen die Schwingen heraus. Sie bildeten ein drachenähnliches Dreieck. Der Hals war länger als normal und der Kopf wirkte im Profil noch stromlinienförmiger und vogelartiger. Die Augen waren noch nach vorne gerichtet – wodurch das beidäugige Sehen wie bei allen Amarantin eingeschränkt wurde –, aber sie saßen in tiefen, gerippten Knochenhöhlen. Die Nüstern an der oberen Schnabelhälfte waren gebläht und von Rillen durchzogen, wie um es dem Wesen leichter zu machen, die für den Flügelschlag erforderliche Luft in die Lungen zu saugen. Und doch stimmte nicht alles. Immer vorausgesetzt, die Körpermasse des Wesens entspräche in etwa der eines durchschnittlichen Amarantin, dann wären selbst diese Schwingen zum Fliegen jämmerlich ungeeignet. Waren sie also nur ein primitiver Schmuck? Hatten sich die Verbannten zuerst radikal der Biotechnik verschrieben, um sich dann mit diesen lächerlich unpraktischen Flügeln zu belasten?
Oder hatten sie noch einen anderen Zweck?
»Bedenken?«
Die Frage riss Sylveste unversehens aus seinen Gedanken.
»Du hältst die Hochzeit noch immer nicht für eine gute Idee?«
Sylveste wandte sich der Rückseite der Galerie zu.
»Leider komme ich mit meinen Einwänden wohl etwas zu spät.«
»An deinem Hochzeitstag?«, erwiderte Girardieu lächelnd. »Nun, noch ist dein Schicksal nicht besiegelt, Dan. Noch kannst du zurück.«
»Wie würdest du das aufnehmen?«
»Nicht gerade mit Begeisterung, fürchte ich.«
Girardieu hatte sich in Schale geworfen. Er trug einen gestärkten Stadtanzug und hatte für die Kameradrohnen, die ihn umschwirrten, ein wenig Rouge aufgelegt. Nun nahm er Sylveste am Arm und zog ihn von der Balustrade weg.
»Wie lange sind wir nun schon Freunde, Dan?«
»Ich würde nicht gerade von Freundschaft reden; eher von einer Symbiose zweier Parasiten.«
»Nun komm schon«, mahnte Girardieu enttäuscht. »Habe ich dir das Leben in den letzten zwanzig Jahren mehr erschwert als unbedingt nötig? Glaubst du, es hätte mir Spaß gemacht, dich einzusperren?«
»Sagen wir, du hast dabei einen beachtlichen Eifer an den Tag gelegt.«
»Ich habe nur in deinem Interesse gehandelt.« Sie verließen die Galerie durch einen der niedrigen Tunnel, die sich durch die schwarze Schale um die Stadt zogen. Der weiche Boden schluckte das Geräusch ihrer Schritte. »Außerdem«, fuhr Girardieu fort, »war die Meute damals im Fressrausch, Dan, auch wenn das vielleicht nicht auf den ersten Blick zu erkennen war. Hätte ich dich nicht in Gewahrsam genommen, dann hätte früher oder später irgendeine Gruppe ihre Wut an dir ausgelassen.«
Sylveste hörte schweigend zu. Was Girardieu sagte, entsprach theoretisch in großen Teilen der Wahrheit, aber das hieß noch lange nicht, dass er auch seine Motive zu jener Zeit wahrheitsgetreu schilderte.
»Die politische Situation war damals sehr viel einfacher. Es gab zum einen den Ärger mit dem Wahren Weg noch nicht.« Sie hatten einen Fahrstuhl erreicht
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