Unerwartet (German Edition)
Er legt mir die Hände auf die Schulter und schaut mich eindringlich an.
„Du bist wütend, und das verstehen wir. Aber glaubst du, dass in diesem Moment irgendetwas zu ihm durchdringt? Ben hat gerade seinen hoffentlich ersten Vollrausch, und es ist nur richtig, wenn er dafür Konsequenzen zu spüren kriegt. Aber nichts, was du jetzt zu ihm sagst, wird er bewusst aufnehmen. Morgen ist noch genug Zeit, ihm mehr als nur ein paar Takte dazu zu sagen.“
Ein Teil meiner Wut ist verraucht, als Ben auf Paul gestützt in unsere Wohnung stolpert. Trotzdem koche ich immer noch innerlich.
Mein Bruder sieht auf und entblößt eine blutende Platzwunde auf seiner Stirn.
„Oh Gott.“ Ich laufe auf ihn zu und will ihn umarmen, doch er fängt an zu würgen. Sofort ist Paul mit einem Eimer zur Stelle, den er ihm unters Kinn hält. Ich halte seinen Kopf fest, damit er die verletzte Stirn nicht an den Eimerrand lehnt.
„Er ist okay, Katharina. Wir müssen ihn heute Nacht beobachten, aber es sieht schlimmer aus, als es ist. Ich kümmere mich gleich um seine Stirn. Wahrscheinlich kann ich das kleben“, sagt Jakob.
Mir steigen die Tränen in die Augen, doch ich wische sie unwirsch beiseite. Dafür ist jetzt keine Zeit.
Ich nehme Paul den Eimer ab und stelle mit Schrecken fest, dass der Inhalt eine beunruhigend rote Farbe hat.
„Kein Blut, nur Bessenjenever. Irgendso ein ekelhaft süßer Beerenschnaps“, klärt Jakob mich auf. „Von dem Zeug würde ich auch kotzen.“
Nachdem Jakob Bens Platzwunde geklebt und seine aufgeschürften Handballen gereinigt hat, legt er ihn in stabiler Seitenlage aufs Bett. Ben wimmert vor sich hin und kann nicht einschlafen, weil sich alles dreht. Das geschieht ihm recht. Morgen früh wird er sich wünschen, dass ihm nur ein wenig schwindelig ist.
Wir lassen die Zimmertüre auf und gehen zurück ins Wohnzimmer, wo ich mich erschöpft auf die Couch fallen lasse. Paul und Jakob setzen sich rechts und links neben mich.
„Ist das meine Schuld?“ Die Frage stelle ich mehr mir selbst als den Männern.
„Schwachsinn, Engel. Ich will nicht sagen, dass es in Ordnung ist, was er gemacht hat, aber das haben wir alle hinter uns.“
„Ich nicht. Ben sollte es eigentlich besser wissen. Er weiß, wie unser Vater war.“
„Katharina“, seufzt Jakob. „Dein Vater war kein Teenager, der mal über die Stränge geschlagen hat. Er war depressiv. Natürlich musst du Ben deutlich machen, dass das nicht akzeptabel ist. Aber ihn mit deinem Vater gleichzusetzen, ist nicht fair. Ben weiß außerdem nicht, wie du dich dabei fühlst, denn er war damals erst drei Jahre alt. Vermutlich hat er keine greifbare Erinnerung an ihn und schon gar nicht daran, wie viel er getrunken hat.“
„Kann ich euch um einen Gefallen bitten?“
Das geht komplett gegen meine Prinzipien, aber ich weiß mir nicht mehr zu helfen.
„Jeden“, antworten die beiden gleichzeitig.
„Ihr habt gesagt, dass ich mir helfen lassen soll. Natürlich wird Ben von mir noch eine Standpauke bekommen, aber könnt ihr auch mal mit ihm reden? Ich habe das Gefühl, dass ihr einen anderen Draht zu ihm habt und ich einfach nur irrationale Vorwürfe vorbringen werde, wenn ich zu viel sage.“
Jakob nimmt meine Hand und Paul zieht meinen Kopf auf seine Schulter.
„Natürlich, Katharina. Wir reden mit ihm.“
Gegen Mittag am nächsten Tag schleicht Ben wie ein lebender Toter aus seinem Zimmer. Er sieht beinahe noch schlimmer aus, als in der Nacht. Das Tageslicht entblößt noch weitere Kratzer auf seinen Wangen und den Beginn eines Veilchens.
Ben sieht mich mit verschränkten Armen auf der Couch sitzen und wird noch blasser, als er ohnehin schon ist. Ruckartig schlägt er die Hand vor den Mund und taumelt ins Badezimmer, wo gerade wahrscheinlich das ganze Haus hört, wie er die Toilettenschüssel anbrüllt. Ein wenig Schadenfreude kann ich mir nicht verkneifen. Ich hoffe, die Anstrengungen des Würgens bringen seinen Kopf noch einmal richtig zum Pochen.
Als er nach zehn Minuten immer noch nicht aus dem Bad kommt, gehe ich rein, um nach ihm zu sehen. Er hat die Wange auf dem kühlen Toilettendeckel abgelegt und sieht müde zu mir hoch.
„Geht es wieder?“
„Nicht wirklich“, stöhnt er.
„Gut“, sage ich mit mehr Härte, als er von mir gewohnt ist. „Ich hoffe, du behältst das in Erinnerung. Warte erst ab, bis du dich im Spiegel siehst.“
Ben sieht mir dabei zu, wie ich einen Waschlappen nass mache, und seufzt erleichtert,
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