Unerwartet (German Edition)
einem großartigen, jungen Mann heran und ich sehe im Moment auch nichts, was ihm diesbezüglich in die Quere kommen könnte. An diesem einen Abend hat er sich mitziehen lassen und es schwer bereut.“
„Was ist passiert? Ich verstehe das nicht. Mein Bruder ist eigentlich kein Mitläufer.“
„Es ging wohl um ein Mädchen. Sie ist ein Jahrgang über Ben und er wollte sie irgendwie beeindrucken. Bevor du dich aufregst, er hat schon bemerkt, dass sie nicht zu den Leuten gehört, mit denen er weiter Umgang pflegen möchte.“
Natürlich rege ich mich auf. Wie könnte ich nicht?
„Hat er euch ihren Namen gesagt?“
„Hat er nicht. Und selbst wenn, würde ich es dir nicht verraten.“
„Berufst du dich jetzt auf deine Schweigepflicht oder ist das so ein Männerding?“
„Männerding?“ Paul lacht. „Ben hat sich uns anvertraut und ich hab dir schon viel zu viel erzählt. Ich will dir nur klarmachen, dass er sein Verhalten reflektiert hat. Auch wenn der besagte Abend nicht dafür spricht, ist er doch wesentlich reifer als die meisten Dreizehnjährigen.“
Das passiert wohl automatisch, wenn man keine Eltern mehr hat und von seiner Schwester großgezogen wird. Ich hoffe wirklich, Paul hat recht mit seiner Einschätzung.
29.
Nein, ich bin nicht genervt, dass wir für dreihundert Kilometer wegen einer gesperrten Autobahn fünf Stunden gebraucht haben und mir der Rücken wehtut.
Nein, ich rege mich auch nicht auf, dass nach einem affenheißen Sommer unser erster richtiger Urlaub buchstäblich ins Wasser fällt. Sturzbachartige Regenfälle haben uns auf der ganzen Fahrt begleitet.
Ich versuche auch nicht zu meckern, weil mir der Sicherheitsgurt die Brust wund gerieben hat.
Dafür gebe ich gerne zu, dass ich es hasse, länger als nötig in einem Fahrzeug zu sitzen.
Zwar habe ich ein Auto, doch das nutze ich wirklich nur für größere Besorgungen. Es ist ein Wunder, dass mein kleiner Fiat immer so zuverlässig anspringt, auch wenn er oft zwei Wochen am Stück in der Tiefgarage steht.
Nach einer endlosen scheinenden Autofahrt passieren wir endlich das Ortseingangsschild von Cadzand. Ich sitze vorne neben Jakob und Ben sitzt mit Paul auf dem Rücksitz. Mein Bruder hängt zusammengesunken im Gurt und schnarcht leise vor sich hin. Paul wirft mir ein aufmunterndes Lächeln durch den Rückspiegel zu. Angestrengt zwinge ich mich dazu, meine Mundwinkel zu heben, doch im Moment bin ich einfach nur gestresst.
Jakob parkt das Auto vor einem bezaubernden, kleinen Reetdachhaus direkt hinter den Dünen. Hastig schnalle ich mich ab, erleichtert endlich nicht mehr eingezwängt zu sein, und öffne die Autotür. Sofort werden meine Sinne von der unglaublich reinen Meeresluft geflutet. Der starke Regen hat für den Moment nachgelassen, doch es nieselt immer noch. Ich bleibe einfach auf der Stelle stehen und atme tief ein. Hinter mir klappen Autotüren auf und zu, doch ich hebe das Gesicht zum Himmel und lasse mich beregnen.
„Besser?“
Paul steht neben mir und steckt die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans. Jakob versucht gerade, Ben zu wecken, ohne ihn aufzuschrecken.
Ich kann spüren, dass Paul mich umarmen möchte und auch ich sehne mich danach. Wir sind gerade erst angekommen, doch schon jetzt ist es schwer, die Distanz zu wahren, um Ben nicht zu verwirren.
„Etwas“, seufze ich und strecke meine Arme über dem Kopf aus. Meine Wirbelsäule knackt an unterschiedlichen Stellen, doch es hilft meinem verkrampften Rücken.
„Scheiß aufs Wetter, Engel. Wir werden uns ein paar tolle Tage machen.“
Das ist der Moment, auf den ich mich seit Wochen gefreut habe. Jetzt ist es unerheblich, dass es immer wieder regnet, auch wenn mich der Stress vorhin noch hat anders denken lassen.
Paul zeigt Ben das Haus und verteilt mit ihm die Schlafplätze, während Jakob das Auto auslädt.
Ich konnte nicht mehr warten und wollte sofort das Meer sehen. Das Meer macht alles wieder gut, irgendwie.
Zum ersten Mal verstehe ich, wenn Leute sagen, dass sie stundenlang am Strand sitzen und einfach nur den Wellen zuschauen können.
Ich ziehe meine Schuhe aus und vergrabe die Füße im kühlen Sand. Auf meine Ellbogen gestützt, lehne ich mich zurück und lege den Kopf in den Nacken. Feine Regentropfen benetzen mein Gesicht, doch das könnte mich im Moment nicht weniger interessieren.
Als ich die vorbeiziehende Wolkendecke beobachte, taucht Jakobs Kopf über mir auf.
„Ich mache mir Sorgen um dich.“ Er lässt sich
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