Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
hatten. Aber die Menschen hier kannten wir nicht einmal. So tüftelten wir gemeinsam einen Plan aus: Nachdem die Sonne untergegangen war und es auf den Fluren des Heimes ruhiger wurde, krochen wir aus unserem Zimmer. Vorsichtig tappten wir über den Flur, huschten von einer verschlossenen Metalltür zur nächsten und erreichten die Gemeinschaftsdusche: Sie war mittlerweile leer, wie angenommen. Während einer von uns an der Tür Wache stand, zogen sich die anderen zwei aus und seiften sich in Windeseile ab. Danach wurde gewechselt.
Erst als wir in unserem Zimmer zurück waren, konnte ich erleichtert aufatmen. War das jetzt etwa unser neues Leben?
MILAD Ben stand an der Tafel und versuchte verzweifelt, ein Auto zu zeichnen. Die ganze Klasse lachte. Er warf uns einen kurzen heiteren Blick zu und machte mit seinem schiefen Kunstwerk weiter. Obwohl er überhaupt nicht zeichnen konnte, hatte er es bis jetzt geschafft, einen Apfel, einen Baum und eine Katze auf die Tafel zu kritzeln. Unter die Bilder hatte er die deutschen Bezeichnungen geschrieben.
Seit unserer Ankunft in Münster kamen wir nun zwei Mal in der Woche zu diesem Deutschunterricht. Die Klasse bestand aus etwa zwanzig Kindern, das jüngste war sechs und das älteste achtzehn Jahre alt. Und weil wir alle aus verschiedenen Ländern stammten, konnte ich weder Ben noch die meisten anderen Mitschüler richtig verstehen. Doch eins hatten wir gemeinsam: Wir amüsierten uns immer wieder gern über Ben. Er war unser Lehrer – und ein ziemlich wunderlicher Kauz. Mamani würde einen Herzanfall kriegen, wenn sie ihn sehen könnte. Er trug seine T-Shirts immer auf links. Am ersten Tag hatten wir gedacht, er wäre am Morgen beim Anziehen zu verschlafen gewesen und hätte es nicht gemerkt, doch seitdem kam er immer so an. Und seine hellbraunen Haare sahen aus wie dicke Würmer und waren sogar länger als die von Madar.
Die Zeit in der Klasse machte mir Spaß, vor allem weil es sonst im Heim oft langweilig war. Außerdem hatte ich jetzt einige Sätze Deutsch gelernt, etwa Ich heiße Milad . Und wenn wir beim Mittagessen etwas aussuchen konnten, versuchte ich, das auf Deutsch zu machen. Ich zeigte auf ein Gericht und sagte dann: »Das bitte.«
Ben war endlich mit seiner Zeichnung fertig und drehte sich zu uns um. Wir mussten alle lachen, denn er hatte sein eigenes Gesicht samt seinen Wurmhaaren hineingemalt, das uns nun aus dem Fenster eines Autos heraus anschaute. Nur Amir, der neben uns dreien saß, verzog keine Miene. Heute war er die ganze Stunde über sehr ruhig, was ungewöhnlich für ihn war. Amir und seine Eltern kamen aus Afghanistan, weshalb er Farsi mit einem seltsamen Akzent sprach. Er war schon länger als wir hier und kannte sich im Heim sehr gut aus. Normalerweise erzählte er uns viele Geschichten. Oft ging es dabei um abenteuerliche Fluchtwege, die er aus Gesprächen zwischen Erwachsenen aufgeschnappt hatte. Da war zum Beispiel ein Mann, der mit einem kleinen Motorboot von der Türkei bis Griechenland gefahren war. Oder die traurige Geschichte einer Familie, die im Winter von Ungarn über die Berge nach Österreich fliehen wollte, wobei das jüngste Kind erfror.
Doch heute starrte Amir in Gedanken versunken nur auf seinen Tisch.
»Was ist los?«, fragte ihn Mojtaba nach einer Weile.
»Unser Brief ist gestern gekommen«, antwortete er ohne aufzublicken.
»Und was stand da drin?«
»Meine Eltern waren heute bei einem Gespräch. Doch seitdem sie zurück sind, hat Vater kein Wort gesagt. Und Mutter hat nur gesagt, dass wir morgen verlegt werden.«
»Wohin denn?«
»Ach, weiß ich nicht mehr.«
Ich hatte mich mit Amir angefreundet und es machte mich traurig, dass er wegging. Aber es war keine Überraschung. Die meisten Kinder, mit denen wir spielten, verschwanden nach einiger Zeit. Sie erhielten ihren Brief und wenige Tage später waren sie weg. Ich dachte an einen iranischen Jungen, mit dem wir Fußball gespielt hatten, und das irakische Mädchen Nour, das wir immer erwähnten, um Masoud zu ärgern, weil er sich in sie verknallt hatte. Sie beide waren letzte Woche verlegt worden. Wohin, wussten wir nicht.
Für den Rest der Stunde sprachen weder Amir noch wir drei ein Wort. Ich fragte mich, wann denn wohl unser Brief kommen und ob ich dann auch so traurig sein würde.
Als Ben dann anfing, seine Tasche zu packen, wurde mir klar, dass der Unterricht vorbei war. Ich nahm meinen Bleistift und das Blatt Papier, auf dem ich nur wenige von seinen Bildern
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