Unfassbar für uns alle
nicht als Opa-Drohne gelten. So zog ich mir lediglich Handschuhe an.
Lieber hätte ich noch auf Godot gewartet als auf unser Puddinggesicht. Auf den benachbarten Gleisen fuhren Fern- und Regionalzüge ein und aus. Alle noch mit dem Emblem DR = Deutsche Reichsbahn (der DDR) beklebt. Obwohl es seit Jahresbeginn nur noch die Deutschen Bahnen gab. Manche schienen den Untergang ihres Staats immer noch grandios zu verdrängen. Das ärgerte mich ebenso wie die Tatsache, daß das Hinweisschild auf die Si nicht rosa war, wie es laut Netzplan hätte sein müssen, sondern blau. Früher war hier die S 10 (blau) gefahren und man hatte nur die Null mit einem weißen Farbklecks übermalt.
«Du hast Sorgen», brummte Yaiza Teetzmann, als ich meiner Empörung darüber lautstark Ausdruck verliehen hatte.
«Diese Ignoranz, die...»
Wir schwiegen wieder und froren weiter. Ich hoffte auf eine Blasenentzündung und eine Krankschreibung für mindestens drei Wochen.
Yaiza Teetzmann erzählte mir, daß sie mit Enrico ins frühere Ostpreußen fahren wolle, wo seine Großeltern aufgewachsen waren, die Pritzkoleits alle. «Nach Gumbinnen.»
«Gumbinnen, ah ja... Da fällt mir Friedrich Wilhelm IV. ein, unser geliebter preußischer König. An den haben die Bürger von Gumbinnen mal geschrieben und ihn untertänigst gebeten, doch bitte den Namen des Flusses zu ändern, an dem ihr Städtchen liege...»
«An welchem hattet denn jelegen?»
«An der Pissa.»
«Quatsch!»
«Doch. Solche Namen gibt’s nun mal. Ich hab ’ne Tante, die kommt aus Wassersuppe. Das ist hier in Brandenburg, die Ecke Hohennauen, Rathenow. Elli Schmitt, geboren in Wassersuppe.»
Yaiza Teetzmann freute sich. «Aba wat is nu mit Gumbinnen?»
«Die wollten also nicht an der Pissa liegen. Antwort des Königs: «Genehmigt. Empfehle Urinoco.›»
«Du, entschuldige...!» Yaiza Teetzmann stieß mich an. «Das da könnta sein...» Sie zeigte unauffällig auf einen Mann, der eben aufgetaucht war.
Es gab zwei Möglichkeiten, von der Straße auf den Bahnsteig zu gelangen: einmal durch das Empfangsgebäude hindurch und zum anderen auf direktem Weg eine Treppe herauf, die direkt hinter den Prellböcken am Ende der Strecke angelegt worden war.
Der Mann trug einen Wintermantel, der zu einem Rentner von achtzig Jahren gut gepaßt hätte. Ein breiter Gürtel, eine Khaki- oder Lodenfarbe, die unmöglich war. Dabei mochte er gerade Anfang Dreißig sein. Er war um einiges zu dick und hatte einen leichten Watschelgang. Und dies sollte Schweriners Killer sein: O Gott... Regelrecht verarscht kam ich mir vor.
Der Zug nach Wannsee bestand aus sechs Waggons. Wir waren etwa in der Mitte postiert, und unsere «Zielperson» ging gerade am Dienstabteil vorbei, also der letzten Tür des letzten Wagens. Der war schon ziemlich besetzt, und wer jetzt noch einen Sitzplatz haben wollte, vor allem am Fenster, der mußte schon ein ganzes Stückchen nach vorne laufen. So konnten wir davon ausgehen, daß unser Mann an uns vorbeikommen mußte. Wie einer, der die etwa zwanzig Minuten bis Frohnau und die Dreiviertelstunde bis Friedrichstraße stehen wollte, sah er wahrlich nicht aus. Er war so bieder, kraft- und harmlos, daß ich ihn mir eher mit einer Nuckelflasche in der Hand als mit einem Revolver vorstellen konnte. Ich sah keinen Grund, so richtig aufzuwachen. Yaiza Teetzmann schien es nicht anders zu gehen.
«Nach Wannsee – einsteigen bitte...»
Wir sahen uns an. Sollten wir auf den Mann zu rennen, ihn festhalten und...? Oder sollten wir ihn in den letzten Wagen einsteigen lassen, selber in die Tür springen, die direkt vor unserer Nase offenstand, dann auf der nächsten Station aussteigen, nach hinten rennen und ihn...?
Yaiza Teetzmann wollte das eine, ich das andere.
So spurteten wir zunächst einmal in die entgegengesetzte Richtung, stoppten ab, liefen wieder aufeinander zu und fingen an, uns zu beschimpfen.
«Hier lang, Mann!» Sie wollte mich in ihre Richtung ziehen.
Ich riß mich los. «Quatsch! Komm, steig ein hier! Den kriegen wir doch in Lehnitz viel besser als hier.»
«Nach Wannsee – Zurückbleiben!»
Die roten Lampen an den Wagen flammten auf, die Alarmsirenen schrillten, die Türen schlugen zu.
Ich sprang hin, um die mir nächstgelegene Tür wieder aufzureißen. Doch der Wagen stammte aus den dreißiger Jahren, und seine Technik war äußerst robust. Ich schaffte es nicht, gegen die Druckluft anzukommen. Der Spalt war viel zu schmal für mich. Es blieben mir nur
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