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Unfassbar für uns alle

Unfassbar für uns alle

Titel: Unfassbar für uns alle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst (-ky) Bosetzky
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Zehntelsekunden. Abspringen oder als S-Bahn-Surfer draußen kleben bleiben, bis wir Lehnitz erreichten... oder mich die Pfeiler an der Brücke abstreiften und die Räder mich zerschnitten...

30. Szene
Am Bahndamm
    «...das muß im April gewesen sein... ’45 natürlich, kurz vor Kriegsende. Der Zug ist von Oranienburg her gekommen und war voll mit Flüchtlingen. Auf den Trittbrettern haben sie gestanden, sogar auf der Lok vorn... auf den Dächern gesessen, auf den Pufferbohlen zwischen den Wagen. Ich war zwölf damals. Wir sind vor den Russen geflüchtet. Von der Oder, ja, aus Steinau. Das war in der Nähe von Liegnitz. Meine Mutter wollte ins Wasser gehen, wenn es so weit war, dann sind wir aber doch nach Berlin und von da weiter nach Friedrichsheide. Hier bei den Zinnas oben im ersten Stock sind wir einquartiert worden, meine Mutter, mein Bruder und ich. Mein Vater war noch Soldat. An der Westfront damals. Von da kam er dann in französische Kriegsgefangenschaft und hat in Lothringen in den Kohlebergwerken arbeiten müssen...»
    Es war wie auf einer Geburtstagsfeier mit vielen älteren Verwandten. Krankheiten, Jugenderinnerungen, Kriegserlebnisse. Nur saßen wir nicht gemütlich am feingedeckten Kaffeetisch, sondern standen im eklig kalten Schneeregen in Harry Zinnas Garten und sahen zum Bahndamm hinauf. Aber nicht seine Familie war gekommen, sondern außer mir die örtlichen Printmedien und der ORB mit Uwe Madel, um für «Täter – Opfer – Polizei» etwas Spektakuläres zu haben. Und wem da alle lauschten, das war nicht meine Tante Elfie, sondern die Diplom-Medizinerin Elfriede Hinkel, derzeit ansässig in Wismar oben an der Ostseeküste. Sie kam langsam wieder auf den Vorfall zurück, um den sich heute alles drehte.
    «...ja, der Zug. Vorn am Bahnübergang war ein Wehrmachts wagen steckengeblieben. Notbremsung. Viele Leute fielen herunter, vor allem die, die auf den Dächern saßen und keinen Halt mehr fanden. Es gab eine Menge Verletzte, Knochenbrüche, Kopfplatzwunden, Gehirnerschütterungen. Einen hat es aber besonders schlimm getroffen. Einen jungen Mann, achtzehn vielleicht. Der hatte auf den Puffern gesessen und war zwischen zwei Wagen auf die Schienen gefallen. Ein Arm und ein Bein abgetrennt...»
    Wir schwiegen einen Moment und starrten auf den aufgeweichten Boden.
    «Also nicht abgehackt», sagte Zinna in die Stille hinein.
    Die Ärztin fuhr fort. «Ich habe vorhin bei den Kollegen angerufen, die mit der Untersuchung des Skeletts beauftragt sind. Noch ist das Gutachten nicht fertig, fest steht aber, daß es sich wirklich um eine ‹Eisenbahnüberfahrung› handelt. Die Knochen sind in typischer Art zertrümmert. Das sieht ein Fachmann ganz genau, ob das eine Axt gewesen ist, eine Säge oder der Spurkranz eines Eisenbahnwaggons. Ein Mord scheint ebenso ausgeschlossen wie ein Selbstmord. Typisch für eine Selbsttötung ist vor allem, daß man den Kopf auf die Schienen legt – und zwar in Bauchlage. Auch die Verletzungen am Kopf, so die Spezialisten, deuten in unserem Falle ohne jeden Zweifel auf einen Unfall hin.»
    Ich sah Zinna von der Seite an. Er wirkte sehr zufrieden, fast triumphierend. Sicher, nun war er reingewaschen.
    Die Frau aus Wismar wurde vom Reporter des Generalanzeigers gebeten, doch einmal genauer zu schildern, was mit dem Unfallopfer denn anschließend geschehen sei.
    «... das liegt doch auf der Hand: nach ein paar Minuten ist er gestorben. Ich weiß nur, daß alle fürchterlich geschrien haben und die Blutung nicht mehr zu stillen war.»
    Ich konnte mir nicht verkneifen, etwas zu murmeln, das Zinna böse gucken ließ. «.. .’und da beschloß sie, Ärztin zu werden.»
    «Bitte...!?» Die Ärztin fixierte mich.
    «Nichts weiter, Entschuldigung.» O Gott, wenn ich in dieser Sekunde einen Herzinfarkt erlitt, schickte sie mich sicherlich vollends ins Jenseits hinüber.
    War das der Beweis, der Beweis dafür, daß Zinna hier gewaltig trickste? Daß er eine alte SED-Gefährtin angeschleppt hatte, um uns diese Story aufzutischen. Wenn ja, war das sehr geschickt gemacht. Keine andere als eine Ärztin hätte das so gut verkaufen können.
    «Ein langgezogener Pfiff von der Lokomotive vorn, alle sprangen wieder auf. Der Zug fuhr weiter, der Tote blieb zurück. Meine Mutter und Frau Zinna hoben dann ein Grab für ihn aus. Hier am Bahndamm gleich, wo er dann gelegen hat, bis ihn die Bauarbeiter neulich... Was sollten sie machen: ein ordentliches Bestattungswesen gab es ja nicht mehr. Wer der

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