Ungeahnte Nebenwirkungen
Mirjam. »Ich habe morgen nichts vor, also dachte ich, wir könnten gemeinsam auf die Pauke hauen!«
Natürlich wusste Nicole, dass Wochenende war, immerhin besaß sie einen Kalender mit Abreißzetteln, und bis vor wenigen Minuten hätte sie sich auch nicht zweimal bitten lassen, auf die Walz zu gehen. Doch jetzt fühlte sie sich plötzlich außerstande, auch nur einen Fuß vor die Wohnungstür zu setzen. Mirjam hatte am Sonntag nichts vor. Was bedeutete das? Dass sie keinen Notfalldienst schieben musste? Dass niemand sonst auf sie wartete? Dass sie bei Nicole zu nächtigen gedachte?
Wieso ist sie eigentlich immer bei mir und ich nie bei ihr? fragte sich Nicole auf einmal. Auch dies war eine Frage, die sich in ihrem Hinterkopf festgesetzt hatte und sich immer wieder in den Vordergrund zu drängen versuchte, bis eben aber war ihr nie Erfolg beschieden gewesen.
»Was ist mit dir? Habe ich etwas Falsches gesagt?« fragte Mirjam vorsichtig. Sie saß wieder auf der Couch und betrachtete Nicole. Sie studierte ihr Gesicht, als suchte sie nach einem Anhaltspunkt für ihr andauerndes Schweigen.
Nicole ließ sich in den Sessel fallen. Sie streckte die Beine weit von sich. »Nein«, seufzte sie, »nein, du hast weder etwas Falsches noch etwas Richtiges gesagt!«
Sie setzte sich aufrecht hin. »Und genau das ist der Punkt: Du sagst eigentlich nie etwas!«
Die Warnlichter in ihrem Kopf blinkten um die Wette: falsche Abzweigung, unkalkulierbares Risiko, Verletzung der Intimsphäre, Aus!
Das Funkeln in Mirjams Augen verstärkte sich. Sie saß aufrecht, mit durchgedrücktem Kreuz auf ihrem Platz und fixierte Nicole. Das Gesicht, zur Maske erstarrt, zeigte nicht die leiseste Regung. Nicole wartete auf den Todesstoß. So musste sich eine Maus in der Falle fühlen, kurz bevor die Schlange sie verspeiste!
»Was willst du eigentlich von mir?« hörte sie Mirjam gefährlich leise fragen.
»Ich weiß es nicht genau«, wich Nicole aus. Vielleicht könnte sie den tödlichen Biss abwehren, wenn sie sich auf weibliche Naivität verlegte. »Möglicherweise möchte ich einfach mehr von dir wissen. Hast du Geschwister?« fragte sie hastig. Wenigstens das könnte sie ihr doch verraten, dachte sie, denn solche Angaben waren ja nicht vertraulich.
Mirjam schien mit sich zu ringen. Nicole verstand nicht, was an ihrer doch sehr neutralen Frage dran war, das ihre Geliebte in einen Gewissenskonflikt trieb.
»Zwei, äh, eigentlich nur einen Bruder«, erklärte Mirjam, die sich bei diesen wenigen Worten dreimal verhaspelte. »Wir sind also zwei!« Somit war die mathematische Richtigkeit der Aussage wiederhergestellt, grinste Nicole in sich hinein, ihre Geliebte hatte einen unverkennbaren Hang zum Perfektionismus.
»Und was macht er, dein Bruder? Wo lebt er? Ist er verheiratet?« begann Nicole das Bombardement. Jetzt, da Mirjam die erste Frage beantwortet hatte, wenn auch nur sehr widerwillig, würde sie die anderen nicht abblocken können.
Mirjam schüttelte unwillig den Kopf. »Nun mach mal langsam!« forderte sie Nicole auf, doch ihre Stimme klang gar nicht so hart, wie es Nicole erwartet hatte.
»Meine Familie stammt aus dieser Stadt. Mein Bruder lebt noch immer hier. Er ist verheiratet, ja, und er hat auch Kinder. Ach«, jetzt lächelte Mirjam fast, »er ist übrigens auch Zahnarzt, wie mein Vater und wie ich!«
Oh Gott, diese Familie schien überproportional sadistisch veranlagt zu sein! Nicole schloss schwergeprüft die Augen. Und sie verliebte sich auch noch in einen Abkömmling dieser Sippe!
Mirjams Lachen klang sehr amüsiert. »Siehst du, ich wusste doch, dass dir das nicht gefällt! Aber eigentlich sind wir ganz nett!« beruhigte sie Nicole.
»Leben deine Eltern noch?« fragte Nicole, die die Gunst der Stunde auszunutzen gedachte.
»Ja, sie sind beide noch ziemlich fit, obwohl sie die Siebzig schon überschritten haben!« gab Mirjam bereitwillig Auskunft. »Aber was ist mit dir?« drehte sie das Gespräch jetzt um. »Hast du Geschwister, Eltern, Kinder?«
Nun war es an Nicole, leer zu schlucken. Sie hatte Mirjam aushorchen wollen, doch dass sie den Spieß umkehren könnte, war ihr dabei gar nicht in den Sinn gekommen.
»Fair ist fair«, meinte sie schließlich ergeben. »Ja, ich habe Geschwister, zwei Schwestern, um genau zu sein. Sie leben beide im hohen Norden, sind verheiratet, haben je einen Mann und Kinder. Mehr kann ich dir beim besten Willen aber nicht über sie erzählen, denn wir sprechen seit über zehn Jahren nicht
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