Ungeduld des Herzens.
Pause machen, um die Pferde ausschnaufen zu lassen, streift mein wandernder Blick zufällig den Horizont. Weit schimmern im stählernen Blau die Wiesen mit Garben und Schnittern, rund und rein schwingt sich die flache Linie in den Himmel – nur hinter der Lisière silhouettiert sich, zahnstocherhaft schmal, der sonderbare Umriß eines Turms. Das ist ja, ich schrecke auf, ihr Turm mit der Terrasse – zwanghaft ist der Gedanke wieder da, zwanghaft muß ich hinstarren und mich erinnern: acht Uhr, jetzt ist sie längst wach und denkt an mich. Vielleicht tritt der Vater an ihr Bett und sie spricht von mir, sie jagt und fragt Ilona oder den Diener, ob nicht ein Brief gekommen sei, die sehnlich erwartete Nachricht (ich hätte ihr doch schreiben sollen!) – oder vielleicht hat sie sich schon hinauffahren lassen auf den Turm und späht und starrt von dort, angeklammert an das Geländer, genau so herüber nach mir, wie ich jetzt hinüberstarre. Und kaum daß ich mich erinnere, jemand anderer sehne sich dort nach mir, spüre ich in der eigenen Brust schon das mir wohlbekannte heiße Zerren und Ziehen, die verfluchte Kralle des Mitleids, und obwohljetzt die Übung wieder beginnt, von allen Seiten die Kommandorufe wechseln und die verschiedenen Gruppen in Galopp und Karriere sich zu vorgeschriebenen Formationen formen und lösen und ich selber mein »rechts schwenkt« und »links schwenkt« in das Getümmel schreie, bin ich innerlich hinweggerissen; in der untersten und eigensten Schicht meines Bewußtseins denke ich immer nur an das eine, an das ich nicht denken will, an das ich nicht denken soll.
»Himmel, Angst und Zwirn, was ist das für eine Sauerei! Zurück! Auseinander, ihr Bagage!« Es ist unser Oberst Bubencic, der, puterrot im Gesicht, heranprescht und über den ganzen Exerzierplatz brüllt. Und er hat nicht unrecht, der Oberst. Irgendein Kommando muß falsch erteilt worden sein, denn zwei Züge, darunter der meine, die nebeneinander schwenken sollten, sind in voller Karriere ineinander geraten und haben sich gefährlich verfilzt. Ein paar Pferde brechen im Tumult aufscheuend aus, andere bäumen sich, ein Ulan ist gestürzt und unter die Hufe geraten, dazwischen schreien und toben die Chargen. Es klirrt, es wiehert, es dröhnt und stampft wie bei einer wirklichen Schlacht. Erst allmählich lösen die heranwetternden Offiziere den lärmenden Knäuel leidlich auseinander, auf ein scharfes Trompetensignal reihen sich die neugeformten Schwadronen wieder geschlossen wie vordem zu einer einzigen Front zusammen. Aber nun beginnt eine schreckliche Stille; jeder weiß, jetzt wird Abrechnung gehalten werden. Die Pferde, noch angeschäumt von der Aufregung des Ineinandergeratens und vielleicht auch die verhaltene Nervosität ihrer Reiter fühlend, zittern und zucken, die lange Linie der Helme schwingt dadurch leise mit wie im Wind ein stählern gespannter Telegraphendraht. In diese beunruhigte Stille reitet derOberst jetzt vor. Schon an der Art, wie er im Sattel sitzt, aufgestrafft in den Steigbügeln und mit der Reitpeitsche erregt gegen die eigenen Stulpenstiefel klatschend, ahnen wir das anziehende Unwetter. Ein kleiner Ruck am Zügel. Sein Pferd steht still. Dann zuckt es scharf über den ganzen Platz hinweg (es ist, als ob ein Hackmesser niederfiele): »Leutnant Hofmiller!«
Nun begreife ich erst, wieso das alles passiert ist. Zweifellos habe ich selbst das falsche Kommando gegeben. Ich muß meine Gedanken nicht beisammen gehabt haben. Ich habe wieder an diese schreckliche Sache gedacht, die mich völlig verstört. Ich allein bin schuld. Mir allein fällt alle Verantwortung zu. Ein leichter Schenkeldruck, und mein Wallach trabt an den Kameraden vorbei, die peinlich berührt wegschauen, auf den Oberst zu, der etwa dreißig Schritt vor der Front unbeweglich wartet. In vorschriftsmäßiger Distanz halte ich vor ihm; inzwischen ist auch das leiseste Klappern und Klinkern abgestorben. Jene letzte, lautloseste, jene wahrhaft tödliche Stille setzt ein wie bei einer Hinrichtung knapp vor dem Kommando »Feuer«. Jeder, selbst der letzte ruthenische Bauernbursche dort rückwärts, weiß, was mir bevorsteht.
An das, was jetzt kam, will ich mich nicht erinnern. Der Oberst dämpft zwar mit Absicht seine trockene, knarrende Stimme, damit die Mannschaft nicht die wüsten Grobheiten vernehmen kann, mit denen er mich bedenkt, aber manchmal fährt doch eines der saftigsten Zornworte wie »Eselei« oder »schweinemäßiges Kommandieren«
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