Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ungeduld des Herzens.

Ungeduld des Herzens.

Titel: Ungeduld des Herzens. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
Vom Netzwerk:
Casanovas Liebesabenteuer, das Decamerone, dieMemoiren einer Sängerin oder lustige Garnisonsgeschichten. Aus Mitleid – immer wieder aus Mitleid! – und vielleicht auch, um mich seiner melancholischen Zudringlichkeit zu erwehren, hatte ich ihm nach und nach drei oder vier dieser schmierigen, schlechtgedruckten Hefte abgekauft und sie dann lässig in dem Regal herumliegen lassen.
    An jenem Abend aber, müde zugleich und überreizt in den Nerven, unfähig zu schlafen und unfähig auch, etwas Vernünftiges zu denken, suchte ich, um mich abzulenken und schlafmüde zu machen, nach irgendeiner Lektüre. In der Hoffnung, daß die naiven bunten Erzählungen, deren ich mich noch von der Kindheit her verworren erinnerte, die beste narkotische Wirkung üben könnten, griff ich nach dem Band Tausendundeine Nacht. Ich legte mich hin und begann zu lesen in jenem Zustand halber Somnolenz, da man schon zu träge ist, die Seiten umzublättern, und aus Bequemlichkeit eine zufällig nicht aufgeschnittene lieber überschlägt. Ich las die Anfangsgeschichte von Scheherezade und dem König mit matter Aufmerksamkeit und dann weiter und weiter. Aber plötzlich schrak ich auf. Ich war auf das merkwürdige Märchen gestoßen von jenem jungen Mann, der am Wege einen lahmen Greis liegen sieht, und bei diesem einen Worte »gelähmt« zuckte etwas in mir empor wie ein scharfer Schmerz; ein Nerv war von der plötzlichen Assoziation wie von einem Brandstrahl berührt. Der gelähmte Greis ruft in jenem Märchen den jungen Menschen verzweifelt an, er könne nicht gehen und ob er ihn nicht auf seine Schultern aufsitzen lassen wolle und weitertragen. Und der junge Mann hat Mitleid – Mitleid, du Narr, warum hast du Mitleid? dachte ich mir –, er beugt sich wirklich hilfreich nieder und setzt sich den alten Mann huckepack auf den Rücken.
    Aber dieser scheinbar hilflose Greis ist ein Djinn, einböser Geist, ein schurkischer Zauberer, und kaum daß er dem jungen Menschen auf den Schultern sitzt, klemmt er plötzlich seine haarigen nackten Schenkel nervig um die Kehle seines Wohltäters und ist nicht mehr abzuschütteln. Unbarmherzig macht er den Hilfreichen zu seinem Reittier, er peitscht, der Rücksichtslose, der Mitleidlose, den Mitleidigen weiter und weiter, ohne ihm Rast zu gönnen. Und der Unselige muß ihn tragen, wohin jener es heischt, er hat von nun ab keinen eigenen Willen mehr. Er ist das Reittier, ist der Sklave des Elenden geworden, und ob ihm auch die Knie wanken und die Lippen verschmachten, er muß, der Narr seines Mitleids, fort und fort traben und den bösen, den verruchten, den listigen alten Mann als sein Schicksal auf dem Rücken schleppen.
    Ich hielt inne. Das Herz schlug mir, als wollte es aus der Brust springen. Denn noch während ich las, hatte ich plötzlich in einer unerträglichen Vision diesen listenreichen fremden Greis gesehen , wie er erst auf der Erde lag und tränend die Augen aufschlug, um von dem Mitleidigen Hilfe zu erflehen, ihn gesehen, wie er dann huckepack dem andern auf dem Rücken saß. Er hatte weißes gescheiteltes Haar, jener Djinn, und trug eine goldene Brille. Mit der ganzen Blitzhaftigkeit, mit der sonst nur Träume Bilder und Gesichter heranzureißen und zu vermengen verstehen, hatte ich dem Greise des Märchens instinktiv Kekesfalvas Gesicht geliehen, und ich war mit einmal selbst das unselige Reittier geworden, das er peitschte und vorwärtspeitschte, ja, ich fühlte um die Kehle den Druck so körperlich, daß mir der Atem stockte. Das Buch fiel mir aus den Händen, ich blieb liegen, eiskalt, und hörte mein Herz an die Rippen pochen wie an hartes Holz; noch durch den Schlaf jagte dieser grimmige Jäger weiter und weiter, ich wußte nicht wohin. Als ich morgens mit nassem Haar erwachte, war ich erschöpft und ausgemüdet wie nach unermeßlichem Weg.
    Es half nichts, daß ich vormittags mit den Kameraden ausritt, daß ich vorschriftsmäßig, sorgsam und wach meinen Dienst tat; kaum daß ich nachmittags den unausweichlichen Weg zum Schloß hinauswanderte, spürte ich die gespenstische Last wieder auf den Schultern, weil ich erschütterten Gewissens ahnte, daß die Verantwortung, die jetzt für mich begann, eine ganz neue und unermeßlich schwierige geworden war. Damals, auf jener Bank im nächtigen Park, da ich dem alten Manne die Heilung seines Kindes in nahe Aussicht gestellt hatte, war mein Übertreiben doch bloß ein mitleidiges Nicht-die-Wahrheit-sagen ohne meinen Willen und sogar gegen meinen

Weitere Kostenlose Bücher