Ungeheuer
doch es gibt Indizien. Ab und zu hat er den Nachbarn ›frische Leber‹ gebracht. Und als sie nach seiner Verhaftung sein Haus durchsuchten, fanden die Sheriffs in einer Pfanne auf dem Ofen ein menschliches Herz. Aber lass mich der Reihe nach berichten.« In Marks Augen spiegelte sich das Kerzenlicht, während er fortfuhr.
»Während der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts registrierte die Polizei von Wisconsin einen Anstieg von Vermisstenfällen. Auch Grabschändungen mehrten sich. Aber erst, als die Besitzerin eines Eisenwarengeschäftes in Eds Heimatstadt verschwand und Zeugen ihn kurz vorher am Tatort gesehen hatten, wurde sein abgelegenes Gehöft durchsucht. Die Polizisten fanden Grauenhaftes. Ich erspare dir die Einzelheiten.«
»Nein, das will ich jetzt auch noch wissen.« Lara dachte an »ihre« beiden Fälle und daran, dass den Opfern Organe gefehlt hatten.
»Na gut. Aber sei mir nicht böse, wenn du wieder Albträume bekommst.« Mark rieb sich mit den Fingern über die Stirn, was ein schabendes Geräusch verursachte. Die Kerze auf ihrem Tisch flackerte, als fürchte sie sich vor dem, was jetzt kam.
»Die Sheriffs betraten also Edward Geins Haus und fanden die Besitzerin des Eisenwarengeschäftes. Sie hing mit
dem Kopf nach unten an der Decke. Gein hatte Fleischerhaken durch die Sehnen der Fußknöchel gebohrt und sie dann hochgezogen.«
Jetzt flüsterte Mark wirklich. »Der Kopf fehlte. Und er hatte sie ausgeweidet wie ein geschlachtetes Tier. Es gibt Fotos davon.«
Lara fror. Jetzt brauchte sie definitiv einen Kognak, Vernunft hin oder her.
»Edward war nicht anwesend. Er saß bei den Nachbarn und aß mit ihnen zu Abend. Man verhaftete ihn. Am nächsten Tag durchsuchte die Polizei sein Haus.« Mark hatte sich weit nach vorn gebeugt, damit die anderen Gäste nicht hören konnten, was er seiner Begleiterin erzählte.
»Die Sheriffs fanden fünfzehn weibliche Körper. Man konnte nur bei zweien nachweisen, dass Edward Gein sie umgebracht hat.«
»Woher kamen dann die anderen Körper?«
Nebenan begann ein Mann dröhnend zu lachen. Der Ober kam und brachte Laras Kognak.
»Er hat sie auf dem Friedhof ausgegraben. Ed studierte Todesanzeigen. Handelte es sich bei der Verstorbenen um eine nicht zu alte Frau, begab er sich nachts auf den Friedhof, grub die Leiche aus, richtete das Grab wieder so her, dass es nicht auffiel, und nahm die Leiche mit auf seine Farm.«
»Ich ahne, was er damit angestellt hat.« Lara sah Buffalo Bill an der Nähmaschine sitzen. Hinter ihrem Brustbein brannte sich der Alkohol einen Weg nach unten.
»Die Polizei fand außer einzelnen Körperteilen wie Nasen, Lippen oder Knochen auch insgesamt zehn abgesägte Frauenköpfe, eine mit Menschenhaut überzogene Trommel, mehrere Stühle, die mit Streifen aus Haut bezogen waren, Handtaschen, deren Henkel aus gegerbter menschlicher Haut
zusammengenäht worden waren, neun oder zehn Totenmasken, Armbänder aus Menschenhaut und eine Schüssel aus einem Menschenschädel, die Edward Gein anscheinend zum Essen benutzt hatte.«
»Das ist entsetzlich.«
»Du wolltest die Details wissen.«
»Ich halte das schon aus.« Lara dachte darüber nach, noch einen Kognak zu trinken, entschied sich aber dagegen.
»Und genau so, wie Thomas Harris es dann in Das Schweigen der Lämmer aufgegriffen hat, hatte dieser Ed Gein sich Bekleidungsstücke aus der Haut seiner Opfer genäht, zum Beispiel eine Art Überhose aus menschlicher Beinhaut und eine Weste aus der Haut eines weiblichen Rumpfes. Wohl gemerkt, Lara: Dies hat sich kein blutrünstiger Horrorautor ausgedacht, das ist alles wirklich geschehen und wurde fein säuberlich dokumentiert. Und ab und zu gibt es ähnliche Taten. Ich könnte dir auf Anhieb mindestens zehn weitere Täter nennen.«
»So richtig ausmalen will ich mir das nicht.« Und trotz – oder vielleicht gerade wegen – dieses Vorsatzes saß in Laras Vorstellung ein verlottert aussehender, unrasierter Mann an einer altertümlichen Nähmaschine, seine Beine wippten vor und zurück und bewegten so das Antriebsrad, die Hände schoben langsam lederähnlichen Stoff zur Nadel hin. Als die Figur damit begann, sich eine blutbefleckte Weste anzuziehen, schloss Lara die Augen und dachte an eine Südseeinsel mit Palmen mitten im azurblauen Ozean. Mark hatte recht gehabt – sie würde Albträume bekommen. Aber sie hatte es nicht anders gewollt. Lara öffnete die Augen wieder und sah ihr Gegenüber
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