Ungeheuer
»Kannst du mir das irgendwie erklären?«
Es dauerte einen Moment, dann bewegte sie vorsichtig den Kopf von links nach rechts.
»Nicht?« Er musste sich dicht nach vorn beugen, um ihr heiseres »Nein« zu verstehen.
»Das ist schlecht, meine Beste. Wir möchten nämlich unsere Richtigstellung UNBEDINGT in der Zeitung sehen, und zwar in der Zeitung, die die unwahren Behauptungen über uns abgedruckt hat. Und zwar so schnell wie möglich!« En weiterer Schlag ließ ihren Kopf nach hinten schnellen. »Also überleg dir schleunigst, woran es gelegen haben könnte!«
Weil sie von Neuem nach Wasser röchelte, beschloss er, ihr einen Schluck einzuflößen. Vielleicht regte das ihre Gehirnzellen an. Stockend und mit zahlreichen Unterbrechungen erklärte sie ihm, dass es daran gelegen haben könnte, dass er den Artikel zu spät abgeschickt hatte. Wenn die Seite schon beim Belichten war, konnte man nichts mehr daran ändern. Das Zeitfenster zwischen dem Verschwinden des Spätdienstes und den Vorbereitungen des Andrucks war klein.
Hatte es Sinn, die gleiche Aktion heute Abend etwas eher noch einmal zu versuchen? Er könnte in der Nähe des Redaktionsgebäudes
warten, bis der Letzte das Haus verließ, dann sofort an Laras Computer den Text eingeben und absenden.
Sie sagte, das könnte funktionieren.
Doctor Nex erhob sich und prüfte die Fesseln der Frau. »Also gut, meine kleine Provinzjournalistin. Eine Chance gebe ich dir noch! Und gnade dir Gott, falls du mich eben angelogen hast.« Wenn das der Fall war, würde er seine Botschaft in Laras hellhäutigen Rücken einbrennen und ihren Kadaver im Rollstuhl vor der Tür des Redaktionsgebäudes abstellen.
»Ich gehe jetzt wieder nach oben. Es sind einige Vorbereitungen zu treffen. Bis dann!« Er löschte das Licht und übersah ihren nach der Wasserflasche fiebernden Blick. Das war hier kein Krankenhaus mit Sonderbehandlung. Zweimal drehte sich der Schlüssel im Schloss. Mochte sie da unten ruhig rufen und rumoren, niemand würde es hören. Er hatte es in seiner Kindheit oft genug ausprobiert.
In der Küche setzte er sich an seinen Tisch, trank den inzwischen kalten Kaffee und überlegte. Es war sehr riskant, heute noch einmal in die Redaktion zu gehen. Stimmte Laras Geschichte mit dem Zeitfenster?
Jedenfalls war es angebracht, ein paar Vorkehrungen zu treffen, um sich abzusichern. Er hatte den ganzen Tag Zeit, um sich vorzubereiten.
Lara versuchte zu schlucken, aber es ging nicht. Sie schloss die Augen und öffnete sie gleich wieder, doch es blieb stockfinster. Wie vorbeitreibende Sommerwölkchen drifteten Bilder des Raumes, in dem sie sich befand, an ihrem inneren Auge vorbei. Die Regale mit den Konservendosen, die gekalkte Ziegelwand, die Brettertür deuteten darauf hin, dass
sie sich in einem Keller befand. Da der Wahnsinnige, der sie gekidnappt hatte, ohne Jacke und in Pantoffeln aufgetaucht war, konnte dieser Keller sich eigentlich nur bei ihm zu Hause befinden. Wo auch immer das sein mochte.
Lara versuchte, das brennende Durstgefühl zu unterdrücken. Sie musste nachdenken , aber ihr Kopf war wie mit Watte gefüllt.
Vor einiger Zeit hatte sie in einer spießigen Küche gesessen. »Vor einiger Zeit« konnte Stunden, aber auch Tage her sein. Lara hatte keine Ahnung. Der Irre hatte ihr einen Text präsentiert, in dem von Kreationen, Schöpfertum und Kunstwerken fabuliert wurde.
Vorsichtig drückte sie die Lendenwirbelsäule ein wenig durch. Sofort krampfte der Rücken. Ihre Blase schmerzte. Sehr lange würde sie dem Harndrang nicht mehr widerstehen können.
Wieder traten die Bilder vom Machwerk des Geisteskranken vor ihr inneres Auge. Die milchigen Augen an dem Klumpen Fleisch schienen sie noch immer vorwurfsvoll anzustarren. Im Licht der Neonröhre hatten die grellgrünen Zierstiche von innen heraus geleuchtet. Lara unterdrückte ein trockenes Würgen und versuchte, den Anblick zu verdrängen und sich stattdessen an die Pläne des Mannes zu erinnern. In ihrem Unterleib verkrampfte sich die Harnblase, und Lara schluchzte kurz und biss dann die Zähne zusammen.
Der Wahnsinnige hatte versucht, sein Pamphlet bei der Tagespresse einzugeben und die veränderte Fassung dann abzusenden, damit sie am nächsten Tag erschien.
Dass dies nicht funktioniert hatte, konnte mehrere Ursachen haben. Am wahrscheinlichsten war, dass die Änderung einfach zu spät gekommen war, aber es bestand auch die Möglichkeit, dass die Techniker, die vor dem Belichten alles
noch einmal
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