Ungeschoren
Spiele und Glücksspiele, Prostitution und Pornografie gediehen maßlos. Menschen starben in Scharen im sogenannten Verkehr, dem kollektiven Selbstmord jener Zeit, indem man Fahrzeuge, die immer höhere Geschwindigkeiten erreichten, auf Wegen ohne schützende Trennwände aufeinandertreffen ließ. Die Privatsphäre ging verloren aufgrund intimer Gespräche über Mobiltelefone in öffentlichen Transportmitteln und durch E-Mail-Viren, die die geheimen Briefe der Menschen in infizierter Form an alle Bekannten verschickte. Die menschliche Natur wurde ein ums andere Mal mittels primitiver genetischer Manöver verändert, weil die Kontrollbehörden privatisiert wurden. Menschen kommunizierten über ihre Computer, um sich nicht von Angesicht zu Angesicht begegnen zu müssen. Alte und Arbeitslose wurden allein gelassen und starben auf den Straßen, weil niemand mehr Geld und Zeit opfern wollte, um sich mit Pflege zu befassen. Aufgrund zielbewusster Misswirtschaft mit den natürlichen Ressourcen veränderte sich das Klima auf drastische Weise. Die Gewalt nahm immer gröbere Formen an, und spezielle superduperintelligente Polizeitruppen mussten eingesetzt werden, um der allerschlimmsten Auswüchse Herr zu werden. Jetzt, da wir besser in der Lage sind, unsere Gegenwart zu betrachten, wird es uns wohl endlich gelingen, etwas aus der Geschichte zu lernen. Und jetzt ist es an der Zeit, Pille 234FR zu nehmen, denn die Wolke Tschernobyl 86C, die Sauerstoff enthält, dieses tödliche Gas, ist meinem genetisch eingepflanzten Detektor zufolge auf dem Weg hierher.‹
Nein, dachte Arto Söderstedt und riss sich am Riemen. So werden keine Kinder gemacht. Nur aus Barmherzigkeit abgetriebene Fantasiegeburten.
Er wandte sich wieder den Akten zu. Oblate, dachte er. Kerstins Notiz: ›Christi Leib wieder Leib geworden‹. Sehr poetisch. Die realisierte Metapher. Weiter: ›Schlechte Fingerabdrücke aufgr. v. Abnutzung. Brynolf fragen.‹ ›Schlafmittel? Schmerzstillende Mittel? Schlamper Qvarfordt fragen.‹ ›Russe? Interpol anfragen.‹ ›Methode. International vergleichen. Auch Interpol.‹
Tja, dachte Söderstedt. Die Methode. Elektrische Stichsäge. Wohl entscheidend, ob das Opfer betäubt war oder nicht. Die Szene, falls nicht, wollte er sich lieber nicht vorstellen. Aber seine Fantasie war auch so schon recht aktiv. Er landete in einer dunklen, vor Feuchtigkeit triefenden Lagerhalle. Ein im Boden einzementierter Metallstuhl. Ein großer Mann auf dem Stuhl festgeschnallt. Den Nacken ordentlich an einer Stange befestigt, die hinter dem Stuhlrücken aufragte. Fest gespannte Lederriemen um den Hals, die Arme und Beine. Vergebliche Versuche, sich wegzudrehen. Dickes silbernes Klebeband um den Mund. Und dann das Geräusch, als die Säge eingeschaltet wird.
Nein, das brachte nichts. Nichts außer Angst.
Arto Söderstedt saß in Kerstin Holms Zimmer. Die Chefperspektive. Stellvertretender Chef während ihrer Auslandsreise. Er kicherte ein bisschen. Wenn Mörner das wüsste. Kriminalinspektor Arto Söderstedt, stellvertretender operativer Chef der Spezialeinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter beim Reichskriminalamt. Es war ungefähr so wie Vizeministerpräsident.
Er stand auf und blickte durchs Fenster in den nichtssagenden Innenhof des Polizeipräsidiums. Mittwochvormittag. Ein schöner Tag zu Beginn des Sommers. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Sein Blick fiel auf den neuen Fernseher, und er schaffte es, ihn mit der Fernbedienung einzuschalten. Kein Fußball? Nein, bei der WM war Pause, vor den Viertelfinalspielen.
Eine Pause im Spiel …
Er trat an das Faxgerät. Zwei Papiere steckten darin. Auf dem oberen stand nur, in einer Schrift, die nach Garamond aussah, wahrscheinlich 24 Punkt: ›Denkt an Keith Cederholm.‹ Er betrachtete das Blatt. Vermutlich gehörte es zu einer Art interner Kommunikation, an der Kerstin beteiligt war. Besser die Finger davon lassen. Darunter lag ein sprachgewaltiges Fax von Gerichtsmediziner Sigvard Qvarfordt.
Er nahm es mit und setzte sich wieder an den Chefschreibtisch. Seltsamer Ton. Der Messer-an-der-Kehle-Ton, Kompensationsintensität. Hatte der Alte sich vielleicht einen Patzer geleistet und versuchte jetzt, Boden wiedergutzumachen?
Offenbar. Neuer Ansatz. Der große Körper mit dem Loch im Kopf war tatsächlich vollgepumpt mit Sedativen. Fein, Kerstin. Schlafmittel und schmerzstillende Mittel in ausreichender Menge, dass er nichts gespürt haben dürfte. War das ein
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