Ungeschoren
Trost? Für das Opfer ja. Für Arto Söderstedts Wohlbefinden ja. Für die polizeiliche Ermittlung nein. Denn dieser Umstand machte eine mafiaartige Abrechnung weniger wahrscheinlich. Es lag immer etwas widersinnig Trostreiches darin, dass ein Mordopfer selbst kriminell war, dass es ebenso unbekümmert hatte morden können, wie es ermordet worden war. Aber warum sollte die Mafia sich solche Umstände machen und das Opfer vor der grausigen Tat betäuben und einschläfern? Jetzt wurde es folglich komplizierter, nicht zuletzt in Kombination mit dem posthum tätowierten U.
Wenn es überhaupt ein U war. Konnte es nicht ein C sein? Oder ein ganz anderes Zeichen? Aus einem anderen Alphabet? Oder irgendein Symbol? Das Bild einer Schale vielleicht? Ein Glas, um den Abendmahlswein daraus zu trinken: Oblate – Körper, Wein – Blut?
Spekulationen in allen Ehren – ohne sie kam man nicht weit –, aber früher oder später mussten sie mit Fakten verknüpft werden. Und Fakten waren nichts anderes als die Fingerabdrücke, so ›schlecht‹ sie auch waren. Sie schwirrten gegenwärtig in Europa herum. Wahrscheinlich waren sie inzwischen tief unter den Papierstapeln der Polizeibehörden gelandet und würden wochenlang nicht untersucht werden. Es musste eine direktere Herangehensweise geben. Es musste möglich sein, diesen Mann zu identifizieren. Irgendwie.
Es wurde Zeit, ein richtig superduperintelligenter Polizist zu werden.
Aufmerksam betrachtete er alle Bilder vom Gesicht des Mannes. Dieses leicht Feiste, ganz deutlich trotz der Aufgedunsenheit durchs Wasser. Kein Verlierer, nicht richtig Alkoholiker. Doch fast. Und dann der Körper, so groß, leicht birnenförmig. Etwas kam ihm vage bekannt vor. Der Typ. Der Menschentyp, der Charaktertyp. Etwas Brutales, leicht angefressen. Wenn der Mann kein Krimineller war, dann befand er sich in der Grauzone. Ein roher Typ. Stand höchstwahrscheinlich irgendwo auf der Welt in einer Verbrecherkartei. Aber wo? Also Zeit für ein bisschen grandios vorurteilsbeladene Nationalitätsbestimmung. Warum kam ihm der Charakter bekannt vor? Ein – ›Nationalcharakter‹? Er erlaubte sich, die modrigen Düfte von Rassenbiologie zu ignorieren, die von seinem Gedankengang aufstiegen. Er betrachtete forschend das tote Gesicht, drehte und wendete die Fotos. Die leicht schräg stehenden grauen Augen, die ziemlich hohen Wangenknochen. Es kam ihm vor, als hätte er den Mann schon einmal gesehen. Nicht diesen, aber Menschen dieses Typs. Wann? Als er ein Kind war? Ja, seine Erinnerung hatte diese Art von Klarheit. Scharen solcher Männer sammelten sich um eine Parkbank vor dem Alko in Vasa. Dem finnischen Alkoholmonopol. Das Russische passte nicht ganz, aber fast. War es nicht ein … karelisches Gesicht? Einer der vielen zugezogenen Karelier, von denen in Vasa, im etwas zivilisierteren westlichen Finnland, niemand etwas wissen wollte? Hatte er den Typ nicht auch später gesehen? Zusammen mit den kriminellen finnischen hohen Tieren, für deren Freisprüche Arto Söderstedt einen großen Teil seines frühen Berufslebens aufgewendet hatte – als juristisches Wunderkind in Vasa? Halbkrimineller Strafverteidiger. Seine Klienten hatten gelegentlich karelische Leibwächter, grausame, stumme Machotypen ohne Gewissen.
Ja, verdammt, bestimmt war der Kerl Finne.
Da war auch etwas mit den Sandalen. Die Marke Laja Pro. Hatte das nicht einen finnischen Klang? Er schaute im Internet nach.
Richtig, Laja Pro waren echte finnische Schuhe aus Laitosjalkines Schuhfabrik in Hirsilä.
Taugte das? Doch, es war möglicherweise ein brauchbarer Ansatz. Auf jeden Fall einen Versuch wert. Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer.
Eine Stimme im Hörer antwortete: »Interpolabteilung der Reichskriminalpolizei. Kommissar Rickard Blomdahl.«
»Hej, hier ist Arto Söderstedt von der Spezialeinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter.«
»Na so was«, entgegnete Kommissar Rickard Blomdahl gereizt. »Schon wieder die A-Gruppe. Was wollt ihr eigentlich von mir?«
»Ähem, jetzt versteh ich nicht richtig, worauf du hinaus willst …«
»Einer von euch hat gestern mehrmals versucht, mich zu erreichen, hat meine Sekretärin gesagt. Aber ich war verdammt beschäftigt mit den Moldawiern. Ein richtiges Wespennest.«
»Waren wir nicht auch einmal mit dieser Moldawiergeschichte befasst? Ich habe so eine vage Erinnerung …«
»Die Polizei in Jönköping hat sich ans Reichskrim gewandt. Schließlich kamen wir zu der
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