Ungeschoren
Tür.
Da drinnen herrschte umso bessere Ordnung. Der Hintergrundgeruch wurde stärker, wurde chemisch, erkennbar. Der dunkle Raum war klein und hermetisch geschlossen, mit Mengen von Apparaten und Papierstapeln in verschiedenen Farben und Formen. Und dunkel.
Er machte Licht. Das Licht war rot. Die Papierstapel und Apparate wurden in mattrotes Licht getaucht.
An einer Wäscheleine an der Decke hingen einzelne Fotos an Wäscheklammern.
Söderstedt wandte sich zu Marja-Liisa Niemelä um.
Sie nickte. »Er war Fotograf«, sagte sie.
28
Die Auslieferung von Mateusz Kohutek ging reibungslos vonstatten. Polen verhielt sich den EU-Ländern gegenüber zurzeit äußerst kooperativ. Kerstin Holm nahm ihn ganz einfach mit.
Problemlos.
Alle vier Enkelkinder kamen mit, um ihn zu verabschieden. Kommissar Marek Wojcik und Kriminalassistent Rafael Cazapiewski fuhren die ganze Blase zu Poznáns EUmodernem Flugplatz, zwei normale, begabte, unterbezahlte Polizisten, die versuchten, in einem Zeitalter von schnellen, undurchdachten Veränderungen den Kopf über Wasser zu halten. Kohutek verabschiedete sich höflich von dem Duo. Sie beantworteten seine Grüße so höflich, wie man dem Überbleibsel einer verschwundenen Nation huldigt, die durch ein wahnsinniges Jahrhundert gewatet ist. Er umarmte seine Enkelkinder, lange, sehr lange. Man konnte sehen, dass er nicht erwartete, sie wiederzusehen.
Seine Zeit war vorbei.
Sie ließ ihn eine Weile allein stehen und mit den Fingern seiner einen Hand die immer stärker hervortretenden Granatsplitter auf dem Kopf betasten, während die beiden Polizisten seine Enkelkinder einem unbekannten Schicksal zuführten. Kerstin weigerte sich zu glauben, dass Wojcik sie einfach sich selbst überlassen oder sie für ein paar Jahreseinkommen an die Prostitution für EU-Touristen verkaufen würde.
Sie flogen. Mateusz Kohutek sah aus dem Fenster und sagte: »Ich bin noch nie geflogen.«
Mehr sagte er nicht.
Es würde noch eine Woche dauern, bis Jon Anderson so weit erholt wäre, dass er die Reise antreten konnte. Eine Woche der Vorbereitungen, um sich durch den zersplitterten Glaskäfig hindurchzuarbeiten – von beiden Seiten.
Stattdessen landete der sechsundsiebzigjährige polnische Kriegsinvalide Mateusz Kohutek in einer Art Glaskäfig. Er saß in einem Raum mit enormem Wandspiegel einem großen, in Leder gekleideten Mann gegenüber, der sehr grausam aussah. Er dachte an seine Begegnungen mit deutschen und später russischen Männern in Ledermänteln und fragte sich, welche schrecklichen Gedanken durch das Gehirn des furchteinflößenden Mannes gingen.
Tatsache war, dass Viggo Norlander an Rasseln dachte. An die eigentümliche Idee, Schlagwerkzeuge in zarte Mädchenhände zu geben und dann zuzuschauen, wie sie damit aufeinander einschlugen. Es handelte sich im Augenblick um eines der größten Probleme der Familie Norlander, die Unart der kleinen Töchter, sich mit ihren Rasseln zu verprügeln.
Woher kamen all diese verfluchten Rasseln?
Norlander sah unbestreitbar ziemlich grausam aus, auch von der anderen Seite des großen Wandspiegels.
Gunnar Nyberg wandte sich zu Kerstin um und sagte:
»Viggo? Ist das wirklich das Erste, was er von Schweden zu sehen bekommen muss?«
»Ich finde schon«, sagte Kerstin Holm. »Dann hat er das Schlimmste überstanden.«
»Er behauptet also, er sei unschuldig?«
»Gewissermaßen. Und ich glaube ihm. Gewissermaßen.«
»Grassiert dieses ›gewissermaßen‹ im Moment nicht ein bisschen stark?«
»Gewissermaßen.«
Sara Svenhagen und Lena Lindberg tauchten in dem kleinen Kabuff auf. Sie waren in einem Gespräch, das offenbar schon einige Zeit andauerte.
»Bist du sicher?«, fragte Sara. »Meinst du wirklich schon heute? Das würde so verdammt gut passen.«
»Ich habe es selbst vorgeschlagen«, sagte Lena. »Also bin ich sicher.«
»Du hast also von unserem kleinen Problem mit Opa Brynolf gehört? Ja, die Hauspost für Klatschgeschichten funktioniert reibungslos.«
»Nein, mir ist vorgeschlagen worden, ich sollte lernen, mit Säuglingen umzugehen.«
»Psst«, zischte Gunnar Nyberg und zeigte aufs Fenster.
»Er kann uns hören.«
»Schön mit Jon«, sagte Sara und drückte Kerstin kurz an sich. »Kein Aber?«
»Es sieht nicht so aus. Er soll noch eine Woche bleiben, zur Beobachtung. Sie haben ihm neues Blut eingefüllt. Er hat jetzt nur noch Osteuropablut.«
»Ist er das?«, fragte Sara und zeigte durch die Scheibe ins
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