Ungeschoren
Vernehmungszimmer.
Kerstin Holm nickte und spürte ein leichtes Streicheln am Arm. Lena Lindberg lächelte und sagte: »Ging es gut gestern? Mit Vicke?«
»Viktor«, korrigierte Kerstin und merkte, dass sie lächelte. »Doch, doch. Und selbst?«
»Doch, ja«, sagte Lena. »Bestens. Aber heute Abend weht ein anderer Wind. Ich bin Babysitterin. Sara und Jorge wollen ins Kino.«
»Was, schon wieder?«, entfuhr es Kerstin.
»Nur wieder hoch auf den Rücken des Pferdes«, sagte Sara. »Warum es nicht gleich noch einmal versuchen? Wenn du dich wirklich von diesem Claes losreißen kannst.«
»Das habe ich doch schon gesagt«, entgegnete Lena. »Wir sehen uns stattdessen morgen. Übrigens war er es, der gesagt hat, ich sollte mich an Kinder gewöhnen. Und Vicke?«
»Viktor«, korrigierte Kerstin. »Ja, wir sehen uns heute Abend.«
»Das ist ja der reinste Hühnerhof hier drinnen«, sagte Gunnar Nyberg.
Und es wurde noch schlimmer. Ein weiteres weibliches Wesen zeigte sich in dem kleinen Raum. Allerdings an einer männlichen Brust getragen.
Ein Herzen und Umarmen setzte ein, und Gunnar Nyberg kam sich ein bisschen bedrängt vor in seiner Ecke.
»Also, Papa und Mama lassen dich schon wieder allein?«, sagte Kerstin und verwuschelte das Haar der kleinen Isabel.
»Na ja«, sagte Jorge. »Wir sehen mal.«
»Es ist schon entschieden«, sagte Sara. »Muttermilch ist reichlich vorhanden.«
»Und Sojamilch«, sagte der Gatte forsch. »Wie ist es denn gegangen mit eurer Lera?«
»Wir haben wieder mit ihr geredet«, sagte Sara. »Aber nichts Neues.«
»Lera?«, fragte Gunnar Nyberg. Aber niemand hörte ihn.
»Und wie war das Spielen?«, fragte Sara mit einer gewissen Kühle.
»Souverän«, sagte Jorge und sang: »›There’s a fossil that’s trapped in a high cliff wall / There’s a dead salmon frozen in a waterfall / There’s a blue whale beached by a springtide’s ebb / There’s a butterfly trapped in a spider’s web.‹«
»Luft«, sagte Gunnar Nyberg und stöhnte laut.
Er wurde schnell erhört. Die Tür des kleinen Kabuffs wurde erneut aufgezogen.
»Jesses«, sagte ein hoher Polizeioberer in der Türöffnung.
»Das sieht ja aus wie in einer albanischen Stehsauna.«
»Paul«, rief Kerstin. »Was führt dich in unser bescheidenes Viertel?«
»Ich wollte eigentlich Arto treffen«, sagte Paul und drängte sich herein.
»Das ist wohl der Einzige, der nicht hier ist«, sagte Jorge Chavez.
»Hallo«, sagte Hjelm und verwuschelte das Haar der kleinen Isabel. »Du bist also in deiner Freizeit hier?«
»Zwangskommandiert«, sagte Chavez. »Von meiner Frau.«
Gunnar Nyberg stellte fest, dass man jeden Tag etwas Neues lernte. Zum Beispiel, wie Klaustrophobie sich anfühlt.
»Wer ist das?«, fragte Paul Hjelm und zeigte durch die Scheibe.
»Viggo Norlander«, sagte Chavez. »Du solltest ihn kennen. Er figuriert doch in diversen Internermittlungen.«
»Das ist Mateusz Kohutek«, sagte Kerstin Holm. »Polnischer Großvater, der gewissermaßen eine Krankenschwester mit der Axt erschlagen hat.«
»Gewissermaßen?«
»Du kannst ja eine Weile hier stehen und alte Erinnerungen auffrischen«, sagte Kerstin und drängte sich hinaus.
»Arto sollte gleich kommen.«
Kurz danach erschien sie im Vernehmungsraum. Viggo Norlander stand auf und trat an den großen Spiegel. Er blickte aus einem Zentimeter Abstand hinein und hob drohend den Zeigefinger. Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen den Spiegel.
Das verursachte ein kleineres Chaos in dem kleinen Kabuff. Man drängte sich, um freie Sicht zu bekommen. Klein-Isabel wurde an Lena Lindbergs Brust gepresst und begann instinktiv zu nuckeln.
»Hoppla«, sagte Lena.
»Daran musst du dich gewöhnen«, sagte Jorge. »So ist es, wenn man Babysitterin ist.«
Als Kerstin Holm mit der Vernehmung begann, breitete sich im Kabuff jedoch Schweigen aus.
Sie redeten englisch. Der Alte sprach ein richtig brauchbares Kabel-2-Englisch. Der Anfang des Verhörs folgte dem Standardmuster. Für Paul Hjelm war es ein merkwürdiges Gefühl, Kerstin allein dort drinnen zu sehen (wenn man von dem Lederrücken vor der Nase absah). Er erkannte, wie sehr ihm gewisse Teile der Arbeit fehlten.
Nein, dachte er und warf einen Blick auf Chavez. Nein, alles.
»Warum haben Sie eine so seltsame Reiseroute gewählt?«, fragte Kerstin Holm.
»War sie seltsam?«, sagte Mateusz Kohutek erstaunt.
»Pozna-Berlin-Hamburg-Helsingborg. Das ist ja nicht gerade der direkte Weg. Und dann Mietwagen ab
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