Ungeschoren
Krzosek. Der Blick. Das war ein Mann, den man sich gescheitert und alkoholisiert vorstellen sollte. Doch der Blick sagte etwas anderes. Er war erloschen und enorm scharf zugleich. Selbstredend der logischste Kandidat. Aber auch Wojtek Krzoseks Erscheinung sagte Gunnar Nyberg nichts.
Denn darum ging es. Dass ihm etwas gesagt werden sollte.
Wieder stellte er alle vier Bilder nebeneinander.
Zeit verging.
Was war das? War er nicht ungewöhnlich schwer von Begriff?
Er nahm sich die Mappe mit dem Fall Elzbieta Kopanska vor. Unendlich viele sinnlose Seiten. All diese trostlosen Vernehmungen ihrer Studien- und Arbeitskollegen. Die Vernehmung der Modellflieger, der groteske Lasse Gunnarsson mit dem ›Ich bin scharf‹-Käppi, der traurige Ingvar Tillgren, der seine Zukunftshoffnung in die Hände einer mindestens fünffachen Mörderin gelegt hatte. Wie Tillgren plötzlich aus den Schatten hervorgetreten war und an allen möglichen Stellen auf seine Elzbieta gewartet hatte. Wie Nyberg ihn über einen Stoffsticker auf dem Ärmel der Jeansjacke ausfindig gemacht hatte.
War es da irgendwo? Warum erregte gerade das seine Aufmerksamkeit?
Wie war es vor sich gegangen?
Gunnar Nyberg hatte ein Puzzle zusammengesetzt wie ein Detektiv. Fragment um Fragment, Detail um Detail. Eine Haarfarbe hier, eine Gesichtsform da, ein Kleidungsstück dort. Elf Personen hatten ihn gesehen, gleichsam aus dem Augenwinkel. Neun von ihnen waren zuverlässig gewesen, und durch sie war das Bild von Ingvar Tillgren hervorgewachsen. Aber zwei der elf Zeugen fielen aus dem Rahmen. Sie hatten ihre eigenen Phantasmen gesehen statt der Wirklichkeit. Davon war auf jeden Fall der Detektiv ausgegangen. Er blätterte sich zu ihnen vor.
Eine neurotische italienische Modedesignerin erinnerte sich an einen sehr dicken rothaarigen Mann mit drohendem Blick und einer Axt auf dem Gepäckträger, während ein Krankenpfleger, dem ein halbes Kilo Metallschrott an verschiedenen Teilen des Gesichts hing, sich an einen gealterten magersüchtigen Transvestiten mit grausträhnigem Haar und nur einem Arm erinnerte.
Nybergs Blick schwenkte wieder zu den vier polnischen Porträts hinüber. Er zoomte Nummer drei heran. Mateusz Kohutek, 76 Jahre, Vater der Fabrikarbeiterin Irina Zazawska. Mit Metallschrott auf dem Kopf.
Und nur einem Arm.
Er wählte die Nummer des Krankenhauses Huddinge.
Kerstin Holm stand in einem Krankenhausflur und betrachtete die weiß gekleideten Personen, die wie Engel vorüberschwebten, Engel mit der irdischsten aller Tätigkeiten. Über diese Flure war auch Elzbieta Kopanska gegangen, und hinter ihrem freundlichen Lächeln war die Panik aufgestiegen. Sie war gerade in eine zentral gelegene teure Wohnung umgezogen, und die Löhne stiegen nicht, wie sie erwartet hatte, wie man es ihr vorgespiegelt hatte, als sie die Arbeit annahm. Stattdessen sanken sie. Die Erkenntnis, dass sie tatsächlich nicht in der Lage sein würde, das Darlehen für die Wohnung zurückzuzahlen, nahm immer größere Gewissheit an. Soviel sie auch schuftete, einen wie großen Teil ihres Lebens sie auch auf dem Altar für Menschenopfer namens Raszeja-Krankenhaus darbrachte, sie würde es nicht schaffen, in der Wohnung bleiben zu können. Sie würde in eine schäbige Bude in den Vorstädten zurückkehren müssen, wo die von der Gesellschaft an den Rand gedrückten armen Schlucker hausten, und dabei hatte sie sich halb tot gearbeitet, um dort herauszukommen. Gerade als sie mit Entsetzen der Situation ins Auge sah, hatte sich dieser seriöse Mann in der Krankenhauscafeteria an ihren Tisch gesetzt und ganz ruhig gesagt: ›Ein Anruf genügt. Den Rest erledigen wir. Es gibt keinen Grund zur Besorgnis.‹ Und sobald ein Patient starb, rief sie von nun an das Beerdigungsinstitut an. Aber es gab Konkurrenten, und die Patienten starben nicht schnell genug. Die Nachfrage war größer als das Angebot. Es war Marktwirtschaft in Reinkultur: Das Angebot musste der Nachfrage entsprechen. Sie begann, im Voraus anzurufen, wenn Patienten im Sterben lagen, aber es war unsicher. Bei ein paar Gelegenheiten kam das Personal des Beerdigungsinstituts vergeblich. ›Noch einmal‹, sagte der seriöse Mann vom Beerdigungsinstitut, ›und unser Vertrag ist null und nichtig.‹ Die Bank rückte ihr auf die Pelle: ›Sie sind im Rückstand mit den Zahlungen, Fräulein Kopanska. Bald sind wir gezwungen, ein Inkassounternehmen einzuschalten.‹ Dezember vorigen Jahres. In einem Zimmer lag der hochgradig
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