Ungeschoren
Polnisch.
»Ist es nicht genau das, was Sie glauben?«, fuhr der Kommissar ebenso neutral fort. »Dass die Korruption in Polen ebenso grenzen- wie hemmungslos ist?«
Sie beobachtete ihn einen Moment und sagte dann:
»Wenn meine Äußerung diesen Eindruck erweckt hat, bitte ich Sie um Entschuldigung. Ja, Jon Anderson ist ein homosexueller Polizeibeamter, der deswegen schon viel gelitten hat. Was ist Ihrer Ansicht nach passiert?«
»Es sieht nach einem Schwulenhasser aus. Vermutlich ein einigermaßen etablierter Bürger, ohne akuten Geldbedarf, der seine Berufung im Leben entdeckt hat. Sittenlose Homosexuelle auszurotten.«
»Und sonst?«
»Natürlich keine Zeugen. Vier Stiche mit einem Messer mit breiter Klinge, so tief, dass man einen großen Zorn daraus ablesen könnte. Oder nur eine große Effizienz.«
»Könnte es jemand gewesen sein, dem Anderson auf der Spur war? Wie sind die Verhöre mit den Verdächtigen verlaufen?«
»Man kann sie kaum als Verdächtige bezeichnen. Sie sind einfach Verwandte von Personen, die wahrscheinlich von der Krankenschwester Elzbieta Kopanska ermordet wurden.«
»Und wie verliefen die Verhöre?«
»Ich war nicht dabei. Kriminalassistent Rafael Cazapiewski hat Anderson begleitet. Ich werde ihn rufen, dann kann er Sie außerdem ins Raszeja-Krankenhaus begleiten.«
»Raszeja-Krankenhaus? Ist das nicht das Krankenhaus, in dem Elzbieta Kopanska gearbeitet hat, bevor sie nach Schweden kam?«
»Richtig«, sagte Kriminalkommissar Marek Wojtic und drückte auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch.
Gunnar Nyberg verließ die Kampfleitzentrale mit dem Laptop unter dem Arm. In den vergangenen Jahren hatte sein Leben sich normalisiert. Es spielte sich mittlerweile im Rahmen einer ziemlich begrenzten emotionalen Sphäre ab, meist unter positivem Vorzeichen. Keine Angstabstürze mehr. Die Vergangenheit konnte ihn nicht mehr heimsuchen.
Was er während seiner Wanderung durch die Korridore durchlebte, war eine Erinnerung an die alten Zustände.
Er betrat sein Büro. Dort hatte Jon Anderson auf der anderen Seite eines Glaskäfigs gesessen, und sie hatten nicht miteinander reden können. Sobald Anderson den Raum verließ, konnte Nyberg freier atmen.
Sicher wäre es möglich gewesen, sich ihm zu nähern. Aber er hatte es nicht ernsthaft versucht. Anderson hatte in eine Schablone gepasst, ein Zerrbild, das sich in der A-Gruppe ziemlich schnell verfestigt hatte, und an dieses Zerrbild hatte er seine Worte gerichtet. Nicht an Jon Anderson.
Wie war es dazu gekommen? Anderson sollte Paul Hjelm ersetzen. Paul Hjelm war der Leitwolf der A-Gruppe gewesen und ihrer aller Kumpel. Anderson war ein ganz anderer Typ, steif, verkorkst, trocken, förmlich, mürrisch. Und so war er zum Prügelknaben geworden. Es war so schnell gegangen, so widerstandslos. Mobbing. Ohne dass sie auch nur darüber nachgedacht hatten.
Gunnar Nyberg schüttelte das Unbehagen ab und öffnete den Laptop. Es schnarrte, und die Bilder waren wieder da.
Vier Polen und Polinnen, deren Gesichter zu ihm sprechen sollten, die sich aber weigerten, mehr preiszugeben als Andeutungen.
War es so? Hat jemand von euch Jon Anderson in Poznán niedergestochen? Weil er der Wahrheit nahegekommen war? Zuerst habt ihr Elzbieta Kopanska getötet, dann Jon Anderson. Zwei Menschen, die auf ihre Weise vor der Vergangenheit davonliefen.
Oder war das ein Fehlschluss?
Wie auch immer, es war Zeit, das fehlende Glied zu finden.
Das war er Jon Anderson schuldig.
Er vergrößerte die Bilder, eines nach dem anderen, und fixierte sie.
Izabela Wlodarczyk, 62 Jahre, Witwe des Admirals Pawel Wlodarczyk, der im Dezember letzten Jahres gestorben war. Eine flotte Witwe mit blaugrauem Haar und frivolem Lächeln. Sie vermisste ihren zwanzig Jahre älteren Mann wohl kaum. Nein, es war undenkbar, dass sie ihren Mann rächen würde. Und ihr Bild sagte ihm nichts. Überhaupt nichts.
Malgorzata Krzosek, 51 Jahre, Witwe des im Juni letzten Jahres gestorbenen Lehrers Artur Krzosek. Eine engelgleiche, fast durchsichtige Witwe mit sanftem, jenseitigem Lächeln. Ebenso undenkbar.
Mateusz Kohutek, 76 Jahre, Vater der Fabrikarbeiterin Irina Zazawska, die im Januar dieses Jahres gestorben war. Ein wahrhaft geprüfter Kriegsinvalide mit nur einem Arm, dem Metallsplitter aus dem Schädel ragten. Nyberg fixierte die eigentümlichen Metallstücke und erschauerte. Aber nein, das war allzu absurd.
Wojtek Krzosek, 35 Jahre, ältester Sohn des oben genannten Lehrers Artur
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