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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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»Natürlich kann er es sein. Aber er trug viel Make-up und Farbe.«
    »Danke«, sagte Gunnar Nyberg.
    Und meinte es auch.
     
    Jon Anderson lag wie in einem Zelt. Obwohl das Zelt offen war und sein verquollenes Gesicht durch eine Spalte sichtbar war. Es sah nicht lebendig aus.
    »Sie haben gerade den Respirator abgeschaltet«, sagte Kriminalassistent Rafael Cazapiewski mit einem Blick auf die Ärztin.
    Kerstin Holm fuhr zusammen und erbleichte.
    »Er kann jetzt allein atmen«, fügte Cazapiewski hinzu.
    Das durfte als erfreuliche Information bezeichnet werden.
    Kerstin atmete so unsichtbar wie möglich aus.
    Die Ärztin sagte etwas. Cazapiewski übersetzte: »Er wird wahrscheinlich bald aufwachen.«
    »Gott sei Dank«, sagte Kerstin. »Sie sind wohl der Letzte gewesen, der ihn noch vorher gesehen hat. Hat er gesagt, wohin er wollte, was er am Abend vorhatte?«
    Cazapiewski sah schuldbewusst aus. »Es war eigentlich geplant, dass ich ihn am Abend in Poznán begleiten sollte. Aber ich fragte ihn, ob es in Ordnung sei, wenn ich stattdessen Fußball spielte. Er sagte, es wäre in Ordnung. Und er sagte nichts davon, was er vorhatte. Wir haben überhaupt nicht viel miteinander gesprochen.«
    Sie blickte zu dem jungen Polen auf. »Das war nicht Ihr Fehler, Cazapiewski. Eher meiner. Ich hätte ihn nicht allein wegschicken sollen. Er war noch nicht ganz so weit. Ich hätte es ahnen müssen.«
    Cazapiewski sah sie erstaunt an. Eine derartige Aufrichtigkeit hatte er von einer Vorgesetzten offenbar nicht erwartet.
    »Ich bleibe eine Weile bei ihm sitzen«, sagte Kerstin Holm. »Sie haben bestimmt wichtigere Dinge zu tun.«
    Der Kriminalassistent blieb eine Weile stehen und blinzelte. »Beim vorigen Mal, als ein schwedischer Polizist mir gesagt hat, ich könne gehen, sind schreckliche Dinge passiert«, sagte er. »Ich bleibe lieber.«
    »Gehen Sie«, sagte Kerstin Holm. »Wir können uns einigen, dass es ein Befehl ist, wenn es Ihnen dann leichter fällt.«
    Er lächelte und blieb noch einen Moment stehen. Als hätte er noch etwas auf dem Herzen.
    »Ja?«, sagte sie.
    »Grüßen Sie ihn …«
    »Ja?«
    »Und sagen Sie ihm, dass ich nicht Krokodilski heiße.«
     
    Gunnar Nyberg befand sich vor einem menschenleeren Rezeptionstresen in einem Motel bei Linköping, lauschte zum fünften Mal dem Nachhall der primitiven Glocke und betrachtete eine Telefonliste. Gespräche zum Anschluss von Elzbieta Kopanska in Hörningsnäs, Huddinge, Anfang Juni. Außer zahlreichen Anrufen von Ingvar Tillgren gab es ein paar interessante andere. Der erste polnische kam von einer Telefonzelle in Poznán am Dienstag, dem vierten Juni. Der zweite polnische von einem Zugtelefon im Zug zwischen Poznán und Berlin am Mittwoch, dem fünften, am Vormittag. Am gleichen Nachmittag kam einer aus einer öffentlichen Telefonzelle auf dem Hamburger Hauptbahnhof und am Tag danach, Donnerstag, einer aus einer Telefonzelle in Helsingborg, in der Nähe des Turms Kärnan, sowie einige Stunden später, gegen sechs Uhr am Abend, aus diesem Motel unweit von Linköping.
    Wo niemand in der Rezeption war.
    Gunnar Nyberg traktierte die Klingel, bis sie den Geist aufgab. Er hatte sie in der Hand und versuchte ungeschickt, sie wieder zusammenzusetzen, als ein müder Mann von unbestimmtem Alter, aber mit sehr dezidierten Schweißflecken unter den Armen sich aus dem Innern näherte.
    »Ja, bitte«, sagte der Mann und betrachtete die Klingelteile.
    »Die Klingeln sind auch nicht mehr, was sie einmal waren«, sagte Gunnar Nyberg und hielt ihm die Teile hin. Der Mann würdigte sie keines Blickes. Schließlich legte Gunnar Nyberg sie auf das Empfangspult. Der Nachklang hing noch eine peinliche halbe Minute im Raum.
    »Polizei«, sagte er und hielt seinen Ausweis hoch. »Es geht um die Nacht vom sechsten auf den siebten Juni. Hatten Sie da einen polnischen Gast?«
    Der Mann beobachtete ihn so lange, dass Nyberg zu der Überzeugung kam, dass er gestorben war. In der medizinischen Fachliteratur ist zuweilen von schleichenden Herzinfarkten die Rede. Man merkt nicht, dass man stirbt. Das Leben entweicht einfach, ohne den geringsten Schmerz. Der Übergang sei sehr diffus, heißt es. Man kann noch eine gute Weile nach seinem Tod das Gefühl haben, am Leben zu sein.
    Doch das Drama in diesem Motel endete nicht so. Es endete mit einem Seufzen und einer müden Handbewegung zum Computer hinter dem Empfangstresen.
    »Nix«, sagte der Mann schließlich. »Keine Polen.«
    »Können Sie dieses Foto

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