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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Geschlechtsunterschiede ja dazu zu verwischen. Genau wie in der Kindheit. Greise und Greisinnen sind ein und dasselbe, und ein neugeborenes Mädchen unterscheidet sich nicht weiter von einem neugeborenen Jungen. Fragt sich, ob der Unterschied in der Zeit dazwischen wirklich so groß ist, wie wir es uns gern einbilden.«
    »Gehen wir noch mal ein bisschen zurück?«, sagte Gunnar Nyberg und warf einen Blick in die Abschrift eines Vernehmungsprotokolls. »Ich habe mindestens dreißig Menschen gefragt, ob sie eine männliche Person bemerkt hätten, die mit Elzbietas Kommen oder Gehen in Verbindung gebracht werden könnte. Wir waren bei Ihnen zu Hause, und Sie antworteten, ich zitiere: ›Ich habe einen verrückten alten magersüchtigen Transvestiten mit grau gestreiften Haaren und nur einem Arm herumhängen sehen.‹«
    »Und das haben Sie abgetan mit: ›Es müsste ja auch mit dem Teufel zugehen, wenn nicht jeder dämliche Trottel seine eingefleischten Phantasmen auskotzen würde statt der Wahrheit.‹ Sie haben nicht einmal gefragt, wo ich ihn habe herumhängen sehen.«
    »Ich habe ja schon zugegeben, dass es ein Fehler war. Was verlangen Sie von mir? Dass ich mir zur Strafe meine Männlichkeit piercen lasse?«
    »Männlichkeit ist ein komischer Ausdruck«, sagte Esbjörn Bolund ernst.
    »Es war also hier in der Abteilung? Wann?«
    »Eine Woche bevor sie starb. Vielleicht weniger. Anfang Juni.«
    »Versuchen Sie, das Datum genauer zu bestimmen. Ist an dem Tag etwas anderes passiert?«
    Bolund saß still da und befingerte ein besonders großes Loch an der rechten Augenbraue. Schließlich sagte er: »Ich hatte ein verlängertes freies Wochenende. Am Mittwoch, dem fünften, habe ich wieder angefangen. Nachtschicht. Aber dies hier war vor der Mittagspause, daran erinnere ich mich deutlich. Also Donnerstag, Freitag. Nicht Donnerstag, da hatten wir Fortbildung. Es muss Freitag gewesen sein.«
    »Freitag, den siebten«, nickte Nyberg. »Elzbieta wurde am Montagabend ermordet, Montag, den zehnten.«
    »So war es«, sagte Bolund. »Freitag der siebte. Ich war sauer, weil ich nicht zur Schulabschlussfeier gehen konnte. Der Transvestit hat ein bisschen von dem Ärger abgekriegt.«
    »Warum wollten Sie zur Schulabschlussfeier?«
    »Meine Tochter hat die erste Klasse beendet.«
    Nyberg sah ihn verstohlen von der Seite an.
    Bolund lachte los: »Da sieht man, wie falsch man liegen kann, wenn man seinen Vorurteilen folgt.«
    »Jetzt erzählen Sie mir nicht, Sie wären nicht schwul«, platzte Nyberg heraus.
    »Es gab eine Zeit, da habe ich mich selbst nicht akzeptiert«, sagte Bolund ruhig. »Ich war verheiratet und bekam eine Tochter. Ich sehe keinen Grund, das zu bereuen.«
    »Wir haben alle eine Vergangenheit«, sagte Nyberg. »Erzählen Sie jetzt, was passiert ist.«
    »Es war vor dem Beginn der Besuchszeit, vielleicht zehn, elf Uhr am Vormittag. Eine von den Helferinnen kam und wirkte fast verzweifelt und sagte so ungefähr: ›Kannst du dich nicht um die Alte da kümmern, Esse? Du kannst doch mit den alten Tanten. Sie scheint aus der Langzeitpflege getürmt zu sein. Total unansprechbar.‹ Etwas in der Art. Ich bin hingegangen, und er hat mit undeutlicher Fistelstimme irgendein Galimathias von sich gegeben.«
    »Sind Sie sicher, dass es ein Mann war?«
    »Ganz sicher. Und die Sprache klang wie Russisch. Aber ganz wie Russisch auch wieder nicht.«
    »Wieso haben Sie ihn mit Elzbieta in Verbindung gebracht?«
    »Er hat ihren Namen genannt. Mehrmals. ›Elzbieta. Elzbieta.‹ Ich habe ihm gesagt, dass sie an dem Tag nicht arbeitete. Auf Englisch und auf Deutsch. Ich glaube, schließlich hat er es kapiert. Und zog ab. Ehrlich gesagt, habe ich ihn rausgeworfen. In den Aufzug gepackt wie einen Sack Kartoffeln.«
    »Hatte er etwas bei sich?«
    »Was denn? Eine Axt?«
    Nyberg grinste. »Eher etwas, worin er eine Axt tragen konnte.«
    »Daran erinnere ich mich nicht. Es ist nicht undenkbar. Obwohl er ja nur einen Arm hatte. Da ist es gar nicht so leicht, eine Tasche zu tragen. Ganz zu schweigen davon, wie schwierig es ist, mit einem Arm eine Axt zu schwingen.«
    »Ich möchte, dass Sie sich ein Bild ansehen.«
    Esbjörn Bolund nahm die Fotografie entgegen und fuhr zurück: »Wow«, sagte er. »Was hat er denn da im Schädel stecken?«
    »Kriegserinnerungen«, sagte Nyberg. »Erkennen Sie ihn?«
    »Das nenn ich ein geiles Piercing«, sagte Bolund und starrte auf das Foto von Opa Mateusz Kohutek.
    »Ja«, sagte er schließlich.

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