Ungestüm des Herzens
eine Ausrede einfallen, warum ich nicht mit meinem Bruder esse. Wirklich, Lana, ich sehe überhaupt nicht ein, warum ich mich für ein schlichtes Abendessen stundenlang fertigmachen soll. Shellys Förmlichkeit macht mich loco. Wenn er für möglich hielte, dass ich mitspiele, würde er mir vorschreiben, zum Frühstück in einem Ballkleid zu erscheinen.«
»Du vergisst , dass das heute kein schlichtes Abendessen ist, Sam. Seine novia kommt heute zum Essen, damit du sie kennenlernst.«
»0 Gott!« stöhnte Samantha. Sie warf die warme Bettdecke von sich und setzte sich matt auf. »Das habe ich völlig vergessen. Warum hast du mir das nicht gleich gesagt? Hol mir ein Kleid - das leuchtendgelbe Samtkleid, und bring mir die gelben Schuhe. Und ein Tuch. Vergiss das Tuch nicht, ein warmes Tuch. Ich denke gar nicht daran, in diesem großen, kalten Raum zu sitzen und fast zu erfrieren, um meinem Bruder eine Freude zu machen. Oh, verdammt noch mal, wie konnte ich das bloß vergessen?«
»Vielleicht hast du an etwas anderes gedacht.«
»Ich habe nicht gegrübelt, Lana, und ich wünschte, du würdest aufhören, mir Grübeleien zu unterstellen. Ich denke fast gar nicht mehr an ihn.« Froilanas Schweigen war beredt, und Samantha gab auf. Sie hatte dieses Thema satt. Sie argumentierte ohnehin nur mit Lügen, und Froilana ließ sich nicht täuschen. Samantha dachte an Hank. Sie dachte ständig an ihn.
»Sie hat sich verspätet?« fragte Samantha, als sie in den Salon trat und Sheldon allein vorfand.
»Frauen kommen immer zu spät, meine Liebe.«
Sie ließ ihm diese Bemerkung durchgehen, obwohl sie gerade durch größte Hast das Gegenteil bewiesen hatte. Derartige Bemerkungen waren typisch für Sheldon. Er war so snobistisch, dass sie manchmal nicht sicher war, ob sie ihren Bruder mochte.
Er war keineswegs das, was sie erwartet hatte. Ihr Zusammentreffen war für beide Teile eine Überraschung gewesen. Sheldon fand sie zu lebhaft, zu offen, zu amerikanisch. Sie fand ihn schlichtweg fad und dumm.
Sheldon war ganz das, was ihre Großmutter sich gewünscht hätte, der perfekte aristokratische Snob. Doch er war ihr Bruder, der einzige Verwandte, den sie außer ihrem Vater hatte. Aber er hatte bei ihrer Großmutter gelebt, und die beiden hatten sich auseinanderentwickelt. Beide sprachen anders und dachten anders und hatten absolut nichts miteinander gemeinsam. Abgesehen von ihrer äußeren Ähnlichkeit schienen sie nicht im entferntesten miteinander verwandt zu sein.
Samantha muss te sich sogar immer wieder in Erinnerung zurückrufen, dass er ihr Bruder war, denn selbst nach all diesen Wochen, die sie zusammen verbracht hatten, war er für sie ein Fremder. Er hatte ihr keine Fragen gestellt. Alles, was Sheldon von ihr wußte, hatte sie ihm aus freien Stücken erzählt.
Sie war mit der Bereitschaft zu ihm gekommen, ihre Seele bloßzulegen, doch sie hatte es sich schnell anders überlegt, als sein mangelndes Interesse zu offensichtlich wurde. Er hatte weder gefragt, warum sie nach England gekommen war, noch, wie lange sie bei ihm zu bleiben gedachte, oder auch nur, warum ihr Mann nicht mitgekommen war. Es erleichterte sie, nicht über Hank reden zu müssen, aber es wunderte sie, dass er nie eine Frage nach ihrem Vater stellte - sie nicht einmal nach seiner Gesundheit fragte!
Sie nahm an, dass seine Erziehung ihn so hatte werden lassen. Sie konnte so wohlwollend sein, seinen Mangel an Neugier als Diskretion auszulegen. Sein Gefühl, dass jeder sein eigenes Leben lebte und dass dieses Leben niemand anderen etwas anging, zeigte sich auch umgekehrt: Er sprach mit keinem Wort über seine Vergangenheit. Sie erfuhr nur über ihn, was sie selbst beobachten konnte.
So erfuhr sie auch von Teresa Palacio, Sheldons zukünftiger Braut. Eines Morgens kündigte er ihr beim Frühstück an, dass er im Frühjahr heiraten würde. Bis zu diesem Augenblick hatte er die junge Spanierin mit keinem Wort erwähnt, obwohl Samantha bereits seit einem Monat bei ihm zu Besuch war. Samantha sah dem Zusammentreffen besorgt entgegen. Um ihres Bruders willen wollte sie einen guten Eindruck auf das Mädchen machen.
»Darf ich dir vor dem Essen ein Glas Wein einschenken?« fragte Sheldon mit dumpfer, lebloser Stimme.
Samantha schüttelte den Kopf. Sie fragte sich, wie sich jemand in diesen kalten, gefühllosen Mann verlieben konnte. Zugestanden, er sah gut aus. Sehr gut sogar, und er war reich ihre Großeltern hatten ihm ihren gesamten Besitz vermacht.
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