Ungezaehmte Leidenschaft
geringeren Gehalt zufrieden, als sie vorher erhielt, und meine Schneiderin spielt nicht die Französin, wie es die exklusivsten ihres Berufsstandes gern tun. Aber ja, ich komme gut zurecht. Mehr noch, mein Unternehmen floriert, seitdem ich mit dem Leybrook Institute zusammenarbeite. Mr. Leybrook versteht es sehr geschickt, hochrangige Klienten zu gewinnen.«
»So wie Lady Hollister?«, fragte er tonlos.
Virginia zuckte zusammen. »Rückblickend sieht es so aus, als ob sie keine gute Klientin gewesen wäre.«
»Fahren Sie in der Schilderung der Ereignisse fort.«
Virginia blickte wieder aus dem Fenster. »Lassen Sie mich überlegen. Ich wurde in die Bibliothek geführt. Der Raum wirkte kalt und dunkel trotz des Kaminfeuers und der Lampen. Das machte wohl die bedrückende Energie in diesem Haus. Lady Hollister erwartete mich mit ihrer Gesellschafterin. Es wurde Tee serviert. Ich fragte Lady Hollister, warum sie die Deutung gebucht habe.«
»Lieferte sie Ihnen eine Erklärung?«
»Es war sofort ersichtlich, dass Lady Hollister nicht ganz bei Verstand war. Ihre Konversation war unzusammenhängend, sie war leicht erregt. Ihre Gesellschafterin musste sie mehrmals beruhigen. Aber Lady Hollister war ganz klar, als sie erklärte, warum sie mich hatte kommen lassen.«
»Welchen Spiegel sollten Sie deuten?«
»Den Spiegel im Schlafgemach ihrer toten Tochter.« Ein leichter Schauer erfasste Virginia. »Deutungen dieser Art fürchte ich. Kinder …«
»Ich verstehe.«
Wieder blickte sie ihn an. »Wirklich?«
»Ich sah das Schandmal der Monster, die Kindern nachstellen. Warum machen Sie diese Deutungen, wenn Sie sie fürchten?«
»Irgendwie drängt es mich dazu.« Virginia richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Fenster. »Manchmal, aber nicht immer, kann ich trauernden Eltern helfen, einen Schlussstrich zu ziehen. Es ist, als würde meine Deutung die Tür zur Vergangenheit schließen und sie befreit in die Zukunft schreiten lassen. Ganz selten konnte ich Spuren sehen, die die Polizei zum Mörder führten.«
»Deutungen, die den Opfern Gerechtigkeit widerfahren lassen, verschaffen Ihnen Befriedigung?«
»Ja«, sagte sie. »Sie trösten mich auf unerklärliche Weise. Aber gestern konnte ich Lady Hollister nicht geben, was sie wollte und brauchte. Ich vermute, dass ich sie so noch tiefer in ihren Wahn trieb.«
»Was geschah?«
»Lady Hollister eröffnete mir, dass ihre Tochter mit elf Jahren gestorben sei. Offiziell fiel sie einem Unfall zum Opfer. Der Leichnam des Mädchens wurde am Fuß der Treppe gefunden. Als man mich ins Schlafgemach führte, war mir klar, dass dort seit dem Tod des armen Kindes nichts verändert worden war.«
»Wo war der Spiegel?«
»Auf einem kleinen Frisiertisch«, sagte Virginia. »Dem Bett gegenüber. Ich wusste, dass ich nicht in den Spiegel schauen wollte, doch hatte ich das Gefühl, es Lady Hollister schuldig zu sein.«
»Was haben Sie gesehen?«
»Das Mädchen wurde von jemandem angegriffen, den es gut kannte. Von jemandem, der es in Angst und Schrecken versetzte. Sie schrie. Deshalb erwürgte er sie. Er wollte sie zum Schweigen bringen und drückte zu stark zu. Nachher stieß er sie die Treppe hinunter, um einen Unfall vorzutäuschen. Aber ich weiß, wo sie starb.«
»In ihrem Bett.«
Virginia ballte die Hände zu Fäusten. »Ja.«
»Es war Hollister. Ihr eigener Vater hat ihr Gewalt angetan und sie ermordet.«
»Das glaube ich auch.«
Die wohlbekannte Eis-und-Feuer-Energie der Jagd schoss durch Owens Adern. Er unterdrückte sie mit eisernem Willen. Dieses Monster war tot. Er musste sich auf neue Beute konzentrieren.
»Haben Sie Lady Hollister die Wahrheit gesagt?«, fragte er.
»Ich benannte nicht Hollister als den Mörder«, entgegnete Virginia und öffnete die Augen wieder. »Schließlich hatte ich keinen Beweis. In einer Situation wie dieser muss eine Frau in meiner Position ihre Worte sehr sorgfältig wählen. Die Sache ist so, dass ich die Nachbilder der Mörder nicht sehe, nur jene der Toten. Diese Visionen verraten mir sehr viel, sie liefern aber nicht alle Antworten. Es wäre möglich, dass ein anderes Familienmitglied der Mörder war, ein Onkel oder Großvater etwa.«
»Aber Sie verrieten Lady Hollister, dass der Mörder ihrer Tochter jemand war, den das Mädchen kannte und fürchtete?«
»Ja.«
»Wie hat sie reagiert?«
Virginia runzelte die Stirn. »Da bin ich nicht ganz sicher. Das ist der Punkt, an dem die Erinnerungen an letzte Nacht verschwimmen. Ich
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