Ungezaehmte Leidenschaft
wurde als erwartet.« Virginia deutete auf die Ausgabe des Flying Intelligencer auf dem Schreibtisch. »Von Hollisters Tod steht nichts in der Morgenzeitung. Mrs. Crofton hat also keinen Grund, Fragen zu stellen.«
»Da wäre ich nicht so sicher. Meiner Erfahrung nach wissen Haushälterinnen immer mehr, als man glaubt. Es gibt nur deswegen zum jetzigen Moment noch kein Gerede, weil, von uns beiden abgesehen, um Mitternacht niemand wusste, dass Hollister tot war. Nach allem, was wir wissen, ist der Tote noch in seinem Gemach und wartet darauf, gefunden zu werden. Wenn die Presse den Tod meldet, wird man von einer natürlichen Todesursache ausgehen.«
»Ja, natürlich. Die Familie wird dafür sorgen. Man wird den Skandal einer Morduntersuchung vermeiden wollen, zumal viel darauf hindeutet, dass die Ehefrau die Mörderin ist.«
»Genau.«
Virginia faltete die Hände auf dem Löschpapier. »Angesichts der Tatsache, dass keine hochgestellte Familie mit der Polizei zu tun haben möchte, kann ich nicht verstehen, warum jemand versucht hat, alles so zu arrangieren, dass man mich mit einem Messer in der Hand am Tatort findet.«
»Ich bin sicher, dass dies ursprünglich nicht vorgesehen war. Viel wahrscheinlicher ist es, dass letzte Nacht etwas mit einem sorgsam ausgeklügelten Plan schiefging.«
»Halten Sie es für einen Zufall, dass Lady Hollister just an diesem Abend eine Spiegel-Deutung ansetzte?«
»Wenn es um Mord geht, gibt es keine Zufälle. Aber in dieser Situation gibt es andere Möglichkeiten.«
»Und die wären?«
»Vielleicht waren Sie von Anfang an das beabsichtigte Opfer.«
Virginia erstarrte. »Ich?«
»Hätte man Sie am Tatort angetroffen, wären Sie festgenommen und am Ende wahrscheinlich gehängt worden.«
»Allmächtiger!«
»Haben Sie Feinde oder Rivalen, Miss Dean?«
Sie atmete tief durch. »Ich wüsste nicht, aber in unserer Zunft gibt es immer viel Konkurrenz. Also ja, ich habe Konkurrenten, aber ich kann mir nicht denken, dass jemand so weit gehen würde, mir den Mord eines hochgestellten Gentlemans in die Schuhe zu schieben, um mich aus dem Weg zu schaffen.«
»Es ist nur eine Erklärung. Sicher gibt es noch andere Deutungen.«
»Was für ein aufmunternder Gedanke. Sie müssen sich letzte Nacht doch ausgiebig den Kopf über den Fall zerbrochen haben. Und da fällt Ihnen nichts Besseres ein?«
»Ich gebe zu, dass meine Überlegungen nicht sehr produktiv waren. In diesem Stadium gibt es zu viele Unbekannte.«
Virginia zog die Brauen hoch. »Haben Sie überhaupt Schlaf gefunden?«
»Sehr wenig.«
»So wie ich.« Virginia seufzte. »Die meiste Zeit habe ich damit verbracht, eine sinnvolle Erklärung für die Ereignisse zu finden. Ich bin absolut ratlos.«
»Wir haben es mit einem großen Geheimnis zu tun. Aber eines steht für mich fest: Obwohl wir eine sorgfältig gestellte Falle entschärfen konnten, sind Sie noch immer in Gefahr.«
»Aber warum?«
»Weil Sie ein sehr starkes Talent besitzen, Spiegellicht zu deuten, Miss Dean. Ihre psychische Fähigkeit ist der Schlüssel zu dieser Affäre. Sagen Sie mir, was Ihnen von der vergangenen Nacht in Erinnerung geblieben ist.«
»Ich bin jeden einzelnen Moment immer wieder durchgegangen.« Virginia stand auf und ging ans Fenster. Sie strich gedankenverloren über die grüne Samtdraperie und blickte hinaus in den Garten. »Mr. Welch, der Gentleman, der im Institut die Konsultationstermine koordiniert, vereinbarte auf Ansuchen Lady Hollisters für mich eine Sitzung. Ich traf zur festgesetzten Zeit um acht Uhr im Haus der Hollisters ein.«
»Hat Lady Hollister Ihnen einen Wagen geschickt?«
Virginias Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. »Nein, natürlich nicht. Menschen wie Lady Hollister erweisen diese höfliche Geste nur Standesgenossen. Für meine Klienten rangiere ich auf der gesellschaftlichen Leiter noch ein oder zwei Stufen unter einer Gouvernante oder einer bezahlten Gesellschafterin, weil ich anders als die Frauen in diesen ehrbaren Berufen außer Haus gehen muss, um mein Geld zu verdienen.«
»Aber angesichts der Tatsache, dass Sie ein eigenes Haus haben, eine Haushälterin beschäftigen und sich elegant kleiden, wage ich die Vermutung, dass Sie beträchtlich mehr verdienen als Frauen in den erwähnten Berufen.«
Virginia lachte auf und drehte den Kopf, um Owen anzusehen. »Sie haben recht mit Ihrer Vermutung, Mr. Sweetwater. Das Haus ist gemietet, Mrs. Crofton gab sich netterweise mit einem beträchtlich
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