Ungezaehmte Leidenschaft
hast du da?«
»In diesem Buch sind Fotografien versteckt. Alle zeigen junge Mädchen in Beckys Alter.« Virginia blickte rasch auf. »O Gott, ich fürchte, das ist ein Verzeichnis von Hollisters Opfern.«
Er nahm das Buch und betrachtete die Bilder. Ein jedes zeigte ein wie eine Prostituierte gekleidetes junges Mädchen. Alle lagen sie auf dem Bett im Spiegelzimmer.
Müde klappte Owen das Buch zu. Noch mehr Opfer, die er nicht hatte retten können. Noch mehr Spukbilder, die ihn nachts verfolgen würden. »Er hat jahrelang dieser Obsession gefrönt, ohne dass jemand davon erfuhr.«
Virginia berührte seine Hand. Ihr Blick verriet ihm, dass sie wusste, was ihn quälte.
»Die Vergangenheit kann man nicht ändern«, sagte sie. »Ungeheuer wird es immer geben. Du kannst sie nicht alle jagen. Du wirst tun, was möglich ist, aber du musst dich damit abfinden, dass du nicht jedes Opfer retten kannst.«
»Es zu wissen und sich damit abzufinden sind zwei verschiedene Dinge.«
»Man findet sich mit solchen Wahrheiten ab, indem man sich auf die Gegenwart und die Zukunft konzentriert und nicht auf die Vergangenheit.«
Er lächelte. »Woher hast du diese Weisheiten?«
»Von meiner Mutter. Sie belehrte mich, als mein Talent sich zeigte. Sie sagte, ich solle nie vergessen, dass ich trotz des Bösen, das ich im Spiegel sehen würde, hin und wieder Gerechtigkeit für eines der Opfer erreichen und den Hinterbliebenen Seelenfrieden bringen könne. Sie sagte auch, dass diese seltenen Momente genügen müssten, um mir Kraft zu verleihen, andernfalls würden mich die Bilder, die ich in den vor mir liegenden Jahren sehen würde, in den Wahnsinn treiben.«
»Deine Mutter muss eine weise Frau gewesen sein.« Er nahm das Buch unter den Arm. »Ich werde diese Fotografien Caleb Jones für seinen Freund bei Scotland Yard überlassen. Vielleicht kann die Polizei die Familien einiger der Opfer verständigen und ihnen mitteilen, dass der Mörder tot ist.«
»Ein guter Plan«, sagte sie.
Er ging zur Tür. »Gehen wir hinauf. Die meisten Menschen bewahren ihre größten Geheimnisse gern in ihren Schlafgemächern auf.«
Sie gingen einen langen Gang entlang und stiegen dann eine breite Treppe in die obere Etage hinauf.
»Ich erinnere mich, diese Treppe genommen zu haben«, sagte Virginia und blickte sich um. »Das Schlafzimmer, das ich auf Lady Hollisters Wunsch untersuchen sollte, lag auf dieser Etage am Ende des Ganges.«
»Es war der Raum, indem dich die Droge überwältigte?«
»Ja. Danach fehlt mir jede Erinnerung bis zum Erwachen im Spiegelzimmer.«
Das leise Knarren eines gegen Holz scharrenden Seils ließ ihn abrupt anhalten. Er blickte nach oben.
»Virginia«, sagte er leise.
Sie erstarrte. »Was ist?«
»Wenn ich nicht irre, ist das Lady Hollister.«
Das grelle Licht der Lampe fiel auf den Körper einer Frau. Sie hing an einem Seil, das am Treppengeländer zwei Etagen höher befestigt war.
»Du lieber Gott«, flüsterte Virginia. »Ich bin sicher, dass sie es ist.«
Rasch brachte Owen die nächste Treppenflucht hinter sich, dicht gefolgt von Virginia. Beide blickten über das Geländer. Das Licht fiel auf das Antlitz der Toten.
»Ja, es ist Lady Hollister«, flüsterte Virginia. »Wurde auch sie ermordet?«
Owen öffnete seine Sinne und sah das fluoreszierende Licht um Seil und hölzerne Brüstung. Wahnsinn und Verzweiflung strahlten wie ein gefährliches Gift davon aus.
»Nein. Es ist dieselbe psychische Energie, die ich unten in den Gängen sah, wo Hollister getötet wurde. Nachdem sie ihre ermordete Tochter gerächt hatte, erfüllte Lady Hollister ihre Pflicht als Ehefrau. Sie sorgte dafür, dass der Leichnam ihres Gatten heimlich entfernt wurde, machte das Bett und entließ die Dienstboten. Und dann hat sie sich erhängt.«
19
Virginia war in ihrem Arbeitszimmer, in einer Hand eine Tasse Tee, in der anderen das Schreiben eines dankbaren Klienten, als sie den Wagen auf der Straße hörte. Sie schenkte dem Hufgeklapper keine Beachtung, bis sie merkte, dass das Gefährt vor ihrem Haus Halt gemacht hatte. Ihr Puls beschleunigte sich um einen Schlag und verfiel sofort wieder in seinen normalen Rhythmus. Es ist nicht Owen, dachte sie. Er würde in einer schnellen, schnittigen Mietdroschke kommen und nicht in einer großen Privatequipage.
Sie lauschte Mrs. Croftons raschen kleinen Schritten in der Diele und wusste, dass auch die Haushälterin das unverkennbare Klappern eines eleganten Gefährts erkannt hatte. Die
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