Ungezaehmte Leidenschaft
darüber nachsann, wie einsam sie auf der Welt war, raffte Virginia die Scherben ihrer Kindheitserinnerungen zusammen. Das Wissen, dass Mansfield sie und ihre Mutter geliebt hatte, war für sie ein Trost. Eltern bleiben einem wohl immer ein Rätsel, dachte sie.
Virginia wollte nun die kleine Rede halten, die sie sich auf dem kurzen Weg durch den Korridor zurechtgelegt hatte. Lady Mansfield, es handelt sich um einen Irrtum. Ich empfange heute Morgen keine Besucher. Sicher haben Sie Verständnis dafür. Aber ein Blick in Helens flehende blaue Augen genügte, und die Worte waren vergessen. Sie hatte diesen Blick in den Augen zu vieler Klienten gesehen, die zu ihr gekommen waren und Antworten suchten.
»Was wollen Sie wissen, Mylady?«, hörte sie sich stattdessen fragen.
»Mir ist klar, dass es für Sie schwierig ist, Miss Dean«, sagte Helen. »Sicher können Sie sich denken, dass es mir ebenso unangenehm ist. Ich wäre heute nicht gekommen, wenn mir eine andere Möglichkeit offengestanden hätte.«
Ich werde es bereuen, dachte Virginia. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig. Helen litt sichtlich Qualen. Ihre Verzweiflung musste groß sein, wenn sie sich zum Kommen entschlossen hatte.
»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Virginia, auf einen der zwei zierlichen Sessel deutend, die den Kamin flankierten.
»Danke.«
Helen sank erleichtert auf den Sessel und ordnete die eleganten Falten ihres teuren blauen Tageskleides mit kleinen geübten Bewegungen ihrer behandschuhten Finger. Virginia raffte den Rock ihres schlichten kupferbraunen Hauskleides und setzte sich auf den zweiten Sessel.
»Ich weiß, dass Sie keinen Grund haben, mir zu helfen«, sagte Helen. »Dennoch hoffe ich in meiner Not auf ein gewisses Mitgefühl Ihrerseits.«
»Würden Sie wohl zur Sache kommen, Mylady?«
»Ja, natürlich. Meine Tochter Elizabeth ist verschwunden.«
Trotz allem spürte Virginia, wie Eiseskälte in ihr hochstieg. »Glauben Sie, dass sie tot ist?«
Helens Augen weiteten sich. »Gott bewahre.« Sie riss sich zusammen. »Sie ist von zu Hause verschwunden. Heute Morgen ist sie irgendwann auf und davon, ohne jemandem zu sagen, wohin. Niemand sah sie fortgehen. Miss Dean, versteckt sie sich bei Ihnen?«
Virginia war so verblüfft über die Frage, dass sie einen Moment nicht klar denken konnte.
»Du lieber Himmel, nein«, brachte sie heraus.
»Bitte, belügen Sie mich nicht. Ich muss die Wahrheit wissen.«
»Warum sollte sie zu mir kommen? Sie weiß nicht mal, dass ich existiere.«
»Das trifft leider nicht mehr zu.« Helen verkrampfte die Hände auf ihrem Schoß. »Vor Kurzem erfuhr sie, dass Sie ihre Halbschwester sind.«
Virginia erstarrte. »Ich verstehe. Von wem?«
»Es war wohl unvermeidlich. Ich beruhigte mich stets damit, dass sich niemand mehr an die alten Klatschgeschichten erinnern würde. Aber es gibt immer Menschen, die auch uralte Skandale nicht vergessen.«
»Ja«, sagte Virginia.
»Als Elizabeth vor einigen Tagen zu mir kam und Antworten forderte, war mein erster Gedanke, Sie hätten sie aufgespürt, um ihr die Wahrheit zu sagen. Später erfuhr ich, dass sie die Geschichte von einer Freundin hat, die ihre Mutter und eine andere Frau belauschte, als diese die alte Affäre aufwärmten. Die andere Frau scheint eine Ihrer Klientinnen gewesen zu sein.« Helen senkte den Blick auf ihre Hände, ehe sie wieder aufschaute. »Sie machte eine Bemerkung über die Familienähnlichkeit.«
»Das tut mir leid«, sagte Virginia leise. »Ich kann mir vorstellen, wie beunruhigend dies ist. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, dass Elizabeth nicht bei mir ist. Wenn Sie möchten, können Sie das Haus durchsuchen.«
Helen schloss gequält die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie verängstigter aus als zuvor. »Das wird nicht nötig sein. Ich sehe, dass Sie die Wahrheit sagen. Ich gestehe, dass ich meine ganze Hoffnung, Elizabeth zu finden, auf Sie gesetzt hatte. Aber wenn sie nicht hier ist, wo kann sie dann sein?«
»Tut mir leid, ich weiß es nicht«, sagte Virginia wieder. »Könnte Elizabeth nicht bei einer Freundin sein?«
»Nein, das ist sicher nicht der Fall. Ich forschte ganz diskret ein wenig nach, ehe ich mich auf den Weg hierher machte.«
»Ich verstehe noch immer nicht, warum Sie glauben, sie könnte zu mir gekommen sein.«
»Ihre Neugier auf Sie ist grenzenlos. Sie hat Fragen. Fragen, die ich nicht beantworten kann.«
»Fragen welcher Art?«
Helens Mund wurde schmal. »Mein Mann behauptete, über besondere
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