Ungezaehmte Leidenschaft
Haustür wurde geöffnet. Es folgte leises, unverständliches Gemurmel. Kein Klient, wie Virginia sofort wusste. Klienten empfing sie im Institut. Das gehörte zu Gilmore Leybrooks Geschäftspolitik, die sie für sehr vernünftig hielt.
In ihren Anfangszeiten als Spiegellicht-Deuterin hatte sie Klienten in ihren Privaträumen empfangen müssen. Unter den Menschen, die den Rat eines Spiegel-Talents suchten, waren viele, die merkwürdig waren. Einige der echt Verrückten waren um Mitternacht vor ihrer Tür aufgetaucht, hatten zweite oder sogar dritte Deutungen verlangt, überzeugt, dass sie sich beim ersten Mal geirrt haben musste. Von Zeit zu Zeit hatte es Drohungen gegeben. Das Leben war also viel friedlicher, wenn die Klienten die Privatadresse der Deuterin nicht kannten. Aber wenn der Besucher kein Klient und nicht Owen war, wer war es dann?
Abrupt wurde die Tür des Arbeitszimmers geöffnet. Ihre professionelle Art und ihre gelassene Haltung konnten nicht verhindern, dass Mrs. Croftons Augen vor Erregung funkelten. Ihr Ton war so gebieterisch, dass ihre Worte bis hinaus in die vordere Diele dringen mussten.
»Lady Mansfield möchte Sie sprechen, Madam. Soll ich sagen, dass Sie zu Hause sind?«
»Du liebe Zeit, nein.«
Virginia stellte die Teetasse energischer ab als beabsichtigt. Tee ergoss sich über ihre Hand und das Schreiben, das sie gelesen hatte. Mrs. Crofton runzelte die Stirn.
»Haben Sie sich verbrannt, Madam?«
»Nein, nein, der Tee ist kalt.« Virginia griff nach einer Serviette und betupfte ihre Hand. »Es muss ein Irrtum sein.«
»Mit dem Tee? Ich bringe eine frische Kanne.«
»Ich rede nicht vom Tee. Ich meinte die Identität meiner Besucherin. Sind Sie sicher, dass es Lady Mansfield ist?«
»Ihre Karte, Madam.« Mrs. Crofton holte triumphierend eine Visitenkarte hervor. »Ich führte sie in den Salon.«
»Na, dann schaffen Sie sie wieder hinaus.« Virginia zerknüllte die Serviette. »Bitte, sagen Sie der Dame, dass ich nicht zu Hause bin.«
Mrs. Crofton sah ihre Arbeitgeberin streng an. Sie trat ganz ein, schloss die Tür und senkte die Stimme. »Es ist zu spät, sie wegzuschicken. Ich sagte bereits, dass Sie gleich kommen würden.«
»Also, Mrs. Crofton, mir ist wohl bewusst, dass Sie das Gefühl haben, dass die Arbeit in diesem Haushalt für Sie ein sozialer Abstieg ist. Dennoch muss ich Sie leider darauf hinweisen, dass ich Ihre Dienstgeberin bin und in diesem Haus die Anordnungen gebe.«
»Haben Sie denn den Verstand verloren, Madam? Lady Mansfield ist etwas ganz Besonderes. Sie verkehrt in den besten Kreisen. Ich kann es nicht fassen, dass sie sich persönlich zu Ihnen bemüht.«
»Ich auch nicht«, murmelte Virginia.
»Das ist ganz außergewöhnlich. Die meisten Damen ihres Standes hätten Sie schriftlich aufgefordert, in ihr Haus zu kommen, um eine psychische Beratung durchzuführen.« Mrs. Crofton hob aufgeregt die Hände. »Man hätte Sie vermutlich durch den Lieferanteneingang ins Haus gelassen.«
»Sie wissen sehr gut, dass ich niemals Aufträge annehme, die beinhalten, dass von mir erwartet wird, den Lieferanteneingang zu nehmen. Und zu Ihrer Information, Mrs. Crofton, Lady Mansfield hat sich nicht die Mühe gemacht, mich schriftlich zu einem Gespräch zu bitten, da sie wusste, dass ich abgelehnt hätte.«
Mrs. Crofton war fassungslos. »Aber warum?«
»Ich glaube nicht, dass ich das erklären müsste.«
»Ich darf Sie daran erinnern, Madam, dass sie genau die Klientin ist, die wir zu gewinnen versuchen.«
»Wir?«, wiederholte Virginia übertrieben höflich.
Mrs. Crofton ließ sich nicht einschüchtern. »Ich habe Ihrem beruflichen Erfolg viele Überlegungen gewidmet.«
»Wie bitte? Sie haben sich Gedanken über meinen Beruf gemacht?«
»Wenn Sie beruflich vorankommen wollen, müssen Sie sich um hochklassigere Klienten bemühen. Jetzt bietet sich eine goldene Chance. Ich lasse nicht zu, dass Sie diese ausschlagen. Unsere Zukunft hängt davon ab.«
»Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie Ihr Schicksal mit meinem verknüpft sehen, Mrs. Crofton. Heißt das, dass Sie die Hoffnung auf sozialen Aufstieg und einen anderen Posten endgültig aufgegeben haben?«
»Im Moment bieten sich mir nicht viele Chancen. Ihnen aber leider auch nicht. Sie wissen so gut wie ich, dass Sie eine Haushälterin wie mich brauchen, wenn Sie sich verbessern wollen, jemanden, der sich auskennt und der weiß, was Qualität ist.«
»Mrs. Crofton, wissen Sie, dass ich an eine Verbesserung
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