Ungezaehmte Leidenschaft
das sagen? Sie weiß doch nichts von der Welt.«
»Dank ihres Talents verfügt sie über eine starke intuitive Fähigkeit, die ihr ganz sicher helfen wird, Menschen zu meiden, die ihr gefährlich werden könnten. Dieses Feingefühl wird sie vor Unheil bewahren.«
»In letzter Zeit scheint sie sehr gesunde Menschenkenntnis entwickelt zu haben«, musste Helen zugeben. »Ich kann nur beten, dass Sie recht behalten.«
Virginia stand auf. »Ich werde sofort eine Nachricht für Mr. Welch schreiben.«
Auch Helen erhob sich. »Miss Dean, ich bin Ihnen sehr dankbar. Mir ist klar, dass Sie keinen Grund haben, sich Elizabeth gegenüber verpflichtet zu fühlen.«
»Ich schreibe ja nur ein paar Zeilen«, sagte Virginia.
Helen sah sie mit eindringlicher Miene an. »Den Klatsch kann ich nur bestätigen.«
»Was meinen Sie?«
»Die Familienähnlichkeit ist wirklich frappierend. Sie haben die Augen Ihres Vaters, genau wie Elizabeth.«
Helen verabschiedete sich, und Virginia ging zurück in ihr Arbeitszimmer, um die Nachricht für Welch zu schreiben. Nachdem sie den Brief Mrs. Crofton übergeben hatte, damit diese ihn ins Institut bringen lassen konnte, zog sie die unterste Lade ihres Schreibtisches auf und nahm die Fotografie heraus, die darin lag. Lange saß sie da und betrachtete das Bild, das ihren stattlichen Vater, ihre attraktive Mutter und sie selbst im Alter von dreizehn Jahren zeigte. Sie sah darauf unschuldig und glücklich und geliebt aus. Trotz ihres aufblühenden psychischen Talents hatte sie an jenem Tag keine Vorahnung gehabt, dass ihre Welt wenige Monate später um sie herum zusammenbrechen würde.
20
Das Antwortschreiben von Welchs Assistentin Mrs. Fordham kam binnen einer Stunde.
Eine junge Dame ist da und möchte Sie konsultieren. Ihren Namen will sie nicht nennen. Ich nehme an, es handelt sich um die Person, nach der Mr. Welch Ausschau halten sollte. Ich sagte zu ihr, Sie würden in Kürze mit ihr sprechen.
Virginia warf ein paar Zeilen für Helen aufs Papier und ging hinauf, um sich für einen Ausgang umzukleiden. Als sie in der Diele Mantel und Handschuhe an sich nehmen wollte, erwartete Mrs. Crofton sie an der Tür. Seit Helen gegangen war, war sie untypisch still geblieben. Offenbar hatte sie sich noch nicht von dem Schock erholt, der die Entdeckung bedeutete, dass ihre Herrin das außereheliche Kind einer zwielichtigen psychischen Praktikerin und eines Gentlemans aus einer der vornehmsten Familien des Landes war.
»Bitte veranlassen Sie, dass ein Bote die Nachricht rasch bei Lady Mansfield am Hamilton Square abgibt«, sagte Virginia. »Sie ist in großer Sorge um ihre Tochter.«
»Sehr wohl, Madam«, sagte Mrs. Crofton. Die Worte klangen gespreizt und beklommen. Sie öffnete die Tür.
Virginia trat hinaus auf die oberste Stufe.
»Miss Dean?«, hörte sie Mrs. Crofton leise hinter sich.
Virginia blieb stehen. »Ja?«
»Ich denke, dass Sie unter diesen Umständen zu Lady Mansfield sehr großzügig waren.«
»Es war nicht ihre Schuld, dass ihr Gatte sich nebenher eine zweite Familie hielt.«
»Er war nicht der Erste, und er wird nicht der Letzte sein, aber daraus folgt nicht, dass Sie Lady Mansfield etwas schuldig sind.«
»Meine Sorge gilt Elizabeth. Sie ist in jedem Fall unschuldig.«
Mrs. Crofton setzte eine wissende Miene auf. »Sie wuchs in Luxus auf und wird ein Vermögen erben. Später wird sie den ihr gebührenden Platz in der Gesellschaft einnehmen und eine blendende Partie machen. Sie aber werden Ihr Leben lang arbeiten und können von Glück reden, wenn Sie es schaffen, sich für später etwas auf die Seite zu legen.«
»Sie haben recht, Mrs. Crofton. Angesichts der rosigen Zukunft, die Sie für mich entwerfen, muss ich mich wirklich um hochrangigere Klienten kümmern.«
»Es wird auch Zeit, dass Sie die Honorare erhöhen. Die Leute schätzen geleistete Dienste nicht, wenn sie diese nicht teuer bezahlen.«
Virginia lächelte. »Danke für den Rat, Mrs. Crofton. Ich werde ihn ernsthaft in Betracht ziehen.«
Sie zog die Kapuze ihres Mantels über den Kopf und schritt rasch in den nebligen Nachmittag hinaus. Bis zum Leybrook Institute waren es zu Fuß fünfzehn Minuten. Vor dem großen Bau, der die Büros und Besprechungszimmer des Instituts beherbergte, standen meist zahlreiche Kutschen und Mietdroschken. Dieser Nachmittag war keine Ausnahme. An Wochentagen gab es Vorträge über übernatürliche Phänomene sowie Demonstrationen psychischer Kräfte, die ein begeistertes
Weitere Kostenlose Bücher