Ungezaehmte Leidenschaft
ließ sie ein. Im Haus herrschte Dunkelheit. Es erklangen keine von der Küche in die Diele kommenden Schritte.
»Sieht aus, als wäre Mrs. Crofton noch nicht zu Hause«, sagte Matt. Er steckte den Regenschirm in den schmiedeeisernen Ständer. »Vielleicht hatte sie Glück und konnte die Haushälterin der Hollisters ausfindig machen.«
»Das wäre sehr hilfreich.« Virginia öffnete ihren Umhang. »Meine Röcke und Stiefel sind völlig durchnässt. Ich laufe schnell hinauf und ziehe mich um. Wie wär’s, wenn Sie inzwischen in der Küche Wasser aufsetzten? In der Speisekammer müssten Kekse sein. Ich komme gleich nach.«
»Das ist eine ausgezeichnete Idee«, sagte Matt.
Er half ihr mit dem Umhang und schlenderte gut gelaunt den Gang entlang, ein junger Mann auf der Suche nach Essbarem.
Nun ja, es ist nicht seine Zukunft, die eben in Trümmer gefallen ist, sagte Virginia sich. Die Sweetwaters konnten sich einer gesicherten Existenz erfreuen. Es würde immer Monster geben, die es zu jagen galt, und ebenso Menschen und Organisationen wie J&J, die bereit waren, diese Tätigkeit gut zu bezahlen.
Als sie die Treppe hinaufging, empfand sie das Gewicht ihrer feuchten Kleidung seltsam schwer. Aber vielleicht war es ihre Stimmung, die sie niederdrückte. Wie gern hätte sie sich jetzt mit Charlotte ausgesprochen, die zweifellos mit der aufregenden Aufgabe beschäftig war, die geheimnisvolle Gesellschafterin zu finden.
Oben angekommen, ging Virginia den Gang zu ihrem Schlafzimmer entlang. Drinnen schloss sie die Tür, zog ihre nassen Stiefel aus und entledigte sich ihrer feuchten Kleidung. Sie griff zu einem trockenen Unterrock und einem schlichten Tageskleid und befestigte das kleine Schlüsseltäschchen daran. Dann öffnete sie die Tür, trat hinaus auf den Gang und ging die Treppe hinunter. Aus der Küche drang kein Laut. Sehr merkwürdig. Matt hätte inzwischen eigentlich den Kessel aufgesetzt und in der Speisekammer nach den Keksen gesucht haben müssen.
»Matt? Haben Sie alles für den Tee gefunden?«
Sie betrat die Küche. Von Matt keine Spur. Die Schwingtür zur Speisekammer war zu. Rasch stieß Virginia sie auf. Beim Anblick des auf dem Boden ausgestreckt liegenden Matt hielt sie inne.
»Matt!«
Er rührte sich nicht. Dafür rührte sich etwas anderes. Sie vernahm das unheilvolle Klappern und Stampfen, bevor die mechanische Puppe sich schwankend aus der Dunkelheit löste. Der Automat war fast drei Fuß groß, ein Ebenbild Königin Victorias, ihr so ähnlich, dass es Virginia schauderte. Jede Einzelheit war kunstvoll wiedergegeben, von der mit Kristallen besetzten Miniaturkrone bis zu den geknöpften Stiefeln und der dunklen Trauerkleidung, die Ihre Majestät seit dem Tod ihres geliebten Albert trug.
Die Glasaugen der Königin bewegten sich in den Höhlungen und fixierten Virginia. Eiskalte Energie durchschauerte den kleinen Raum. Virginia nahm die nun schon vertraute Kälte mit allen Sinnen wahr und steigerte ihre Sinneskräfte.
Die Königin kam in ihren Miniaturstiefeln klirrend immer näher. Verzweifelt fuhr Virginia ihr Talent noch höher, bis die mechanische Puppe stehen blieb, als wäre sie verwirrt. Virginia griff nach dem nächsten schweren Gegenstand, einer großen eisernen Bratpfanne, und schleuderte sie gegen die Puppe. Die Pfanne warf den Automaten um, er fiel auf den Rücken. Die gestiefelten Fersen fuhren fort, unablässig auf den Boden zu trommeln, während sich die Augen auf der Suche nach einem Blickpunkt rasselnd im Porzellankopf drehten.
Virginia bekam Matts Fußknöchel zu fassen und versuchte, ihn über den Boden außer Reichweite der Puppe zu ziehen. Die männlichen Sweetwaters waren nicht klein, sie bestanden offenbar nur aus Muskeln und Knochen, doch sie schaffte es, Matts schweren Körper halb aus der Speisekammer zu ziehen. Dann musste sie innehalten und wieder neue Kraft für die nächste Etappe sammeln.
Das Klirren, Stampfen und Rasseln des umgestürzten Automaten übertönte das Geräusch der Schritte hinter ihr, bis es zu spät war. Der Hauch eines blumigen Duftes streifte sie kurz, ehe das mit Chloroform getränkte Tuch Mund und Nase bedeckte. Ein Männerarm legte sich um ihre Kehle und drückte sie an eine harte Brust. Sie griff hinter sich, um das Gesicht ihres Angreifers zu zerkratzen, bekam aber nur eine Brille zu fassen, die sie herunterriss und zu Boden warf. Ein scharfes Knacken ertönte, als die Linsen zerbrachen.
»Dumme Gans«, schnarrte Jasper Welch. »Warum
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