Ungezaehmte Leidenschaft
Flöte des Gottes vernahm. Die paranormale Musik war so entnervend wie erotisch. Doch es war der sargförmige, mit weißem Samt verhüllte Behälter, der ihre Bewusstheit vor allem beanspruchte.
Virginia versuchte mit aller Kraft, der Anziehungskraft des verhüllten Schaukastens zu widerstehen, und ging rasch weiter, auf der Suche nach dem leichten Luftzug, der das Vorhandensein einer Tür verriet. Sie kam an einem weiteren Schaukasten vorüber und sah, dass er ein fotografisches Glasplattennegativ enthielt. Sie sagte sich, dass sie das Bild auf der Platte nicht ansehen sollte, konnte aber nicht widerstehen. Virginia senkte den Blick und sah das Bild einer Frau. Zuerst schien an dem Negativ nichts außergewöhnlich zu sein. Dann gewahrte sie, dass die Augen der Frau auf dem Bild wie von innen beleuchtet glühten. Die Glut in den Augen des Subjekts wurde heller und heißer, je länger Virginia das Bild studierte.
Als sie merkte, dass sie die Hand ausstreckte, um den Glasbehälter zu öffnen, schnappte sie nach Luft und trat rasch zurück. Der Drang, das Negativ zu berühren, ließ nach. Rasch wandte sie sich ab und ertappte sich dabei, dass sie erneut den mit weißem Samt verhüllten Behälter anstarrte. Da wusste sie, dass sie den Raum nicht verlassen konnte, ehe sie entdeckt hatte, was darin verborgen war.
Virginia trat an den Kasten, griff nach dem Samttuch, wappnete sich und zog es herunter. Auf den Anblick eines gläsernen Sarges war sie gefasst, doch war es der darin liegende Körper, der sie vor Entsetzen aufschreien ließ.
»Mrs. Crofton!«
Die Haushälterin trug das Kleid, das sie beim Verlassen des Hauses am Morgen getragen hatte. Ihre Augen waren wie im Schlaf geschlossen. Das Bewusstsein, dass Mrs. Crofton den Tod gefunden hatte, weil sie in die Ermittlungen hineingezogen worden war, erfüllte Virginia mit einer Aufwallung von Schuldgefühlen und Wut. Beklommen hob sie den gläsernen Sargdeckel.
Mrs. Crofton seufzte leise. Schwindlig vor Erleichterung, rüttelte Virginia ihre Haushälterin sanft.
»Aufwachen, Mrs. Crofton. Hören Sie mich? Bitte, wachen Sie auf. Wir müssen hier weg.«
Mrs. Crofton verzog im Schlaf das Gesicht. Wieder schüttelte Virginia sie, nun etwas fester.
»Mrs. Crofton, aufwachen!«
Dieses Mal rührte Mrs. Crofton sich, hob die Lider und sah sie mit glasigen Augen an.
»Was?«, murmelte sie benommen und mit belegter Stimme.
»Wir müssen hier weg«, drängte Virginia.
»Bin so schläfrig«, murmelte Mrs. Crofton und schloss die Augen wieder.
»Um Himmels willen. Sie liegen in einem Sarg, Mrs. Crofton. Wenn Sie nicht beerdigt werden wollen, müssen Sie sofort aufstehen.«
Wieder riss Mrs. Crofton die Augen auf. »In einem Sarg? Aus Glas?«
»Ja.«
»In einem Sarg … Jetzt erinnere ich mich … Glaube ich.«
»Später können Sie alles erklären. Wir müssen jetzt fort.«
»Ich habe nichts dagegen.«
Noch immer sichtlich benommen, setzte Mrs. Crofton sich auf und schaffte es mithilfe Virginias, aus dem Sarg zu steigen. Sofort aber wurde klar, dass sie nicht stehen konnte. Virginia versuchte, sie zu stützen, und gemeinsam kamen sie ein paar Fuß weit.
»Es geht nicht«, flüsterte Mrs. Crofton. »Sie müssen ohne mich weiter. Rasch. Bevor sie Ihretwegen kommen.«
»Ich lasse Sie hier nicht zurück.« Virginia schleppte sie bis zur Bank und setzte sie hin. »Wenn Sie warten, werde ich die Tür rascher finden.«
Stöhnend verschränkte Mrs. Crofton die Arme auf den Knien und senkte den Kopf. Virginia eilte durch den Raum, die Anziehungskraft der Artefakte ignorierend. Unter einem der verspiegelten Paneele war ein Lüftchen zu spüren.
»Hier«, rief Virginia.
Mrs. Crofton blickte auf.
»Es muss einen versteckten Hebel geben, doch ich habe keine Zeit, danach zu suchen«, sagte Virginia. »Ich muss den Spiegel zerbrechen, um an die Klinke zu kommen.«
Sie ging zurück und griff nach einer schweren gläsernen Figur. Energieschauer wurden knisternd spürbar. Sie achtete nicht darauf. Das verspiegelte Paneel schwang auf, als Virginia sich ihm eben mit der Figur nähern wollte.
Einen Herzschlag lang wagte sie zu hoffen, Owen würde eintreten und sie retten wie damals im Haus der Hollisters. Aber natürlich war es nicht Owen, der den verspiegelten Raum betrat.
Eine Frau stand in der Tür. Groß, mit einem Gesicht, das recht einnehmend gewesen wäre, hätte sie nicht so eiskalte Augen gehabt. Ihr dunkles Haar war zu einem kunstvollen Knoten hochgesteckt. Das
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