Ungezaehmte Nacht
sich die plötzlich heftig pochenden Schläfen. »Hat man das Mädchen je gefunden?«
Violante nickte. »Nachdem viel Zeit vergangen war, schickte Don Rivellio eine Nachricht, Chanise habe sich damals bei dem Fest in seiner Kutsche versteckt und darauf bestanden, bei ihm zu bleiben. Sie hatte ein bambino , doch sie war sehr krank. Es gibt eine Krankheit, die die Menschen aus diesem Tal befällt, wenn sie zu lange Zeit von ihm entfernt sind. Wenn wir nicht bald zurückkehren, verkümmern wir und sterben schließlich. Theresa und Rolando holten sie nach Hause. Aber sie spricht nicht mehr. Mit niemandem.« Violante seufzte leise. »Ich besuche sie oft, doch sie redet auch nicht mit mir, sondern starrt nur auf den Boden. Sie hat Narben an Hand- und Fußgelenken. Theresa sagt, sie habe auch Peitschenmale auf dem Rücken. Ihr bambino ist der einzige Mensch, auf den sie reagiert. Ich glaube, sie würde sich das Leben nehmen, wenn sie ihn nicht hätte. Rolando und Theresa hassen Don Rivellio, und ich kann es ihnen nicht verdenken.«
»Weiß Don DeMarco von alldem?« Natürlich wusste er davon. Er wusste alles, was innerhalb und außerhalb seines Tales vorging. Isabella konnte sich nicht vorstellen, dass Nicolai eine solche Schandtat ungeahndet ließe, denn sie glaubte keinen Augenblick, dass das Kind freiwillig bei Don Rivellio geblieben war.
»Er sorgte für sicheres Geleit für Chanise und verhandelte mit Don Rivellio über ihre Freilassung, als der Don so tat, als ließe er sie und ihr bambino nur sehr ungern gehen. Er behauptete, nicht sicher zu sein, aber das Kind könne eins der seinen sein.« Violante schnaubte sehr undamenhaft. »Falls Chanise je mit anderen Männern zusammen war, dann nur, weil der Don sie ihnen überlassen hatte. Don DeMarco zahlte sehr viel Geld, um sie zurückzubekommen – zumindest munkelt man das. Theresa spricht überhaupt nicht darüber. Ich glaube, sie fühlt sich schuldig, weil sie den Bitten ihrer Schwester, sie zu der Feier mitzunehmen, nachgegeben hatte.«
Violante schüttelte den Kopf. »Tatsache ist, dass niemand Chanise widerstehen konnte. Sie war wie Sonnenschein auf Wasser. Theresa spricht nicht mehr davon, aber die Trauer und die Schuldgefühle werden sie ihr Leben lang nicht mehr loslassen, und das hat sie wirklich nicht verdient.«
»Und Euch tut es auch leid«, bemerkte Isabella. »Ihr müsst Theresa und ihrer Familie sehr nahestehen.«
»Schluss mit den traurigen Geschichten! Schließlich bin ich hergekommen, um Euch aufzuheitern.« Entschlossen stand Violante auf und blickte sich nach ihren Handschuhen um. »Wir sollten jetzt wirklich gehen, wenn ich Euch noch etwas zeigen soll. Es wird in den Bergen früh dunkel.«
Isabella stand auf und zog geistesabwesend ihre Handschuhe an. Mit Violantes Geschichte über Don Rivellios Ausschweifungen und Lasterhaftigkeit hatte sich wieder dieses unheimliche Gefühl von etwas Bösem eingestellt. Dunkel und bedrohlich kroch es in den Raum, als hätte der bloße Name dieses Mannes etwas durch und durch Krankhaftes herbeigerufen. Isabella blickte sich schaudernd um und wünschte sich nach draußen ins Freie, wo sie jeden Feind, der sich näherte, sehen konnte. Manchmal fühlte sie sich im Palazzo geradezu von Feinden umgeben.
Auch Violante erschauderte sichtlich, als hätte der bloße Name Don Rivellio sie ebenfalls nicht unberührt gelassen. In ihrer Eile, das Zimmer zu verlassen, bewegte sie sich zu schnell und stieß ein dickes Buch vom Rand eines Regals. Es klatschte auf den Boden, und Violante wurde puterrot und schrie erschrocken auf.
»Ach, das ist mir schon des Öfteren passiert«, sagte Isabella schnell, weil sie wusste, wie bestürzt Violante über den kleinsten gesellschaftlichen Fehltritt sein konnte. Isabella bückte sich nach dem großen Buch, das jedoch schwerer war als erwartet und ihr aus den Fingern glitt, um mit einem lauten Aufprall erneut auf dem Fußboden zu landen. Sie lachte leise, um die Anspannung zu brechen, aber sie wollte nicht von ihr weichen und verkrampfte ihr hartnäckig den Magen.
Isabella war mehr als froh, Violante aus dem Palazzo in die frische, kalte Luft hinaus zu folgen. Sie atmete sie gierig ein. Der Wind pfiff durch die Bäume, deren Blätter silbrig glitzerten und deren Äste leise schwankten. Die Welt schien ein überwältigender Ort aus Silber und Weiß zu sein. Isabella folgte dem gut ausgetretenen Weg, der von dem riesigen castello , einer fast uneinnehmbaren Festung, fort und an seinen
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