Ungezaehmte Nacht
bedrohlich als in der vergangenen Nacht. Auch von der scheußlichen, klebrigen Dichte in der Luft und dem Eindruck von etwas Bösem war nichts mehr zu spüren.
Schließlich erreichten sie das andere Ende des Palazzos, das in einiger Entfernung von den Wohnräumen des Gebäudes lag. Isabella konnte einen Blick in Zimmer voller Bücher, Skulpturen und vieler anderer interessanter Dinge werfen, die sie sich gern angesehen hätte, aber Sarina hastete weiter durch das Labyrinth von Korridoren. Isabella hatte schon völlig die Orientierung verloren, als sie eine dritte, breite Wendeltreppe zu einer Galerie mit einer großen Flügeltür hinaufstiegen, vor der sie abrupt den Schritt verhielt. Niemand musste ihr sagen, dass sie sich hier in Don DeMarcos privatem Schlupfwinkel befand.
»Dieser ganze Flügel gehört dem Herrn. Niemand darf ihn ohne ausdrückliche Einladung von ihm betreten.«
»Und die Dienstboten?«, fragte Isabella neugierig, während sie die imposante, mit prachtvollen Schnitzereien und einem Löwenkopf mit struppiger Mähne und scharfen Augen verzierte Tür anstarrte. Der Kopf des Löwen schien aus der Schnitzerei hervorzuragen, und scharfe Fänge waren in dem offenen Maul zu sehen. Doch irgendetwas war anders an diesem Löwen, ganz anders als bei seinen Artgenossen. Dieses Tier sah intelligent, listig und gefährlich aus. Fast so, als wäre aus dem Porträt eines Mannes ein Löwenkopf geschnitzt worden. Isabella konnte fast den Menschen unter der Furcht erregenden Maske sehen.
»Ihr müsst hineingehen«, forderte Sarina sie auf.
Isabella, die in die Schnitzerei vertieft war, hörte die ältere Frau kaum. Sanft strich sie mit einer Fingerspitze über das Furcht einflößende Löwenmaul, weil irgendetwas in ihr auf den Blick dieser Augen reagierte.
» Signorina , öffnet die Tür und geht hinein!«, flüsterte Sarina.
Isabellas Herz begann vor Furcht zu rasen, als sie den Türknauf sah – ein weiterer zähnefletschender Löwenkopf. Nun, da sie wirklich hier war, hatte sie plötzlich Angst, dass der Don sie abweisen und sie dann niemand anderen mehr haben würde, an den sie sich noch wenden könnte. »Kommt mit!«, wisperte sie der Wirtschafterin zu, obwohl ihr Stolz durch diese Bitte eine schwere Einbuße erlitt.
»Ihr müsst allein hineingehen, piccola .« Sarina klopfte ihr ermunternd auf die Schulter. »Er erwartet Euch. Nehmt Euren Mut zusammen!«, sagte sie und wollte sich entfernen.
Bevor sie es verhindern konnte, streckte Isabella die Hand aus und hielt die Frau am Kleid zurück. »Ist er so, wie über ihn gemunkelt wird?«
»Er ist sowohl furchtbar als auch liebenswürdig«, antwortete Sarina. »Wir sind an seine Art und seine Erscheinung gewöhnt. Andere sind es nicht. Seid jemand, zu dem er nett sein kann! Er hat nicht viel Geduld, also geht schnell hinein! Ihr seht hübsch aus, und ihr habt viel Mut gezeigt.« Damit griff sie an Isabella vorbei nach dem Türknauf und drehte ihn um.
Isabella blieb keine Wahl mehr. Zögernd betrat sie das Zimmer, weil ihr Herz so laut pochte, dass sie befürchtete, der Don könnte es hören, und versuchte, weder eingeschüchtert noch ungehalten zu wirken. Es ist wichtig, dass ich mich ehrerbietig und bescheiden gebe, ermahnte sie sich immer wieder. Sie musste bescheiden sein, mit ihrer eigenen Meinung hinter dem Berg halten und ihre unberechenbare Zunge nicht mit ihr durchgehen lassen. Hier konnte sie es sich nicht leisten, das freche kleine Ding zu sein, das alle Regeln im Hause seines Vaters brach, in den Bergen umherstreifte, sooft es Gelegenheit dazu bekam, seinem geliebten Bruder Streiche spielte und sich immer wieder ein missbilligendes Stirnrunzeln von seinem Vater einhandelte, bevor er sich enttäuscht abwandte.
Sie klammerte sich an die Erinnerungen an ihren Bruder Lucca. Er war ihr bester Freund und Vertrauter gewesen und hatte ihre rebellische Art – trotz der inständigen Bitten ihres Vaters, dass sie sich wie eine Dame aufführen solle – sehr oft noch unterstützt. Isabella wusste, dass sie längst hätte verheiratet sein können, wenn es nach ihrem Vater gegangen wäre, verkauft an irgendeinen älteren Don, um die Kriegskasse zu füllen. Aber Lucca hatte nichts davon hören wollen. Viele Male hatte sie sich als Junge verkleidet und ihn auf Jagdausflügen begleitet. Er hatte sie gelehrt, ein Schwert und ein Stilett zu gebrauchen, genauso gut zu reiten wie ein Mann und sogar im kalten Wasser der Flüsse und der Seen zu schwimmen. Noch
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