Ungnade: Thriller (German Edition)
krustig geworden war. Einen Moment lang überlegte sie, ob auch sie dort halten und versuchen sollte jemanden anzurufen, entschied dann aber, dass es wohl klüger wäre, damit zu warten, bis sie einen etwas belebteren Ort erreicht hatte– nur für den Fall, dass die Männer sie doch verfolgten.
Sie betätigte die Taste in der Fahrertür, um das Seitenfenster herunterzulassen, und hielt den Kopf so, dass der Fahrtwind ihr ein wenig kühles Nass ins Gesicht sprühte. Ihre Beine fühlten sich an wie Wackelpudding und reagierten, was die Bedienung der Pedale betraf, nur mit Verzögerung auf die von ihrem Gehirn ausgesandten Signale.
Sie versuchte sich das Bild der Männer, die sie und Roddy angegriffen hatten, ins Gedächtnis zurückzurufen. Wie groß, wie gebaut waren sie gewesen? Aber sie hatte nur ein sehr ungenaues Bild von ihnen, zu übermächtig waren der Schock und die panische Angst gewesen. Sie verbannte alles Nebensächliche aus ihren Gedanken und spulte im Geist zu dem Augenblick zurück, als die Männer plötzlich aus dem Dunkeln auf sie zugekommen waren und sie sie zum ersten Mal gesehen hatte. Bevor…
Sie war sich unsicher, glaubte aber nicht, dass der Mann vom Konzert, der ihr jetzt an der Tankstelle wiederbegegnet war, einer der Männer gewesen war. Er hatte breitere Schultern und war vom Brustumfang und der Statur nach auch größer als die anderen beiden.
Glaubte sie jedenfalls.
Aber was bedeutete das? Dass gleich vier Männer hinter Roddy her waren? Wieso denn so viele?
Die ganze Sache war ihr schleierhaft. Sie wischte sich mit der Hand über das Gesicht, genoss das kühle, feuchte Gefühl des Regens auf ihrer Haut.
Noch einmal blickte sie in den Rückspiegel und dann wieder nach vorn: Es waren keine anderen Autos zu sehen. Sie konnte sich nicht erinnern, sich je so einsam und verlassen gefühlt zu haben.
15
Es war bereits nach Mitternacht, als Logan Finch das Polizeirevier in der Helen Street verließ. Es regnete in Strömen, große Tropfen spritzten vom Gehsteig hoch. Im Laufschritt hastete er zu seinem Wagen. Zwei Jungen, die wohl bei KFC arbeiteten, standen unter dem Baldachin am Eingang und schienen darauf zu warten, abgeholt zu werden.
Logan setzte sich in seinen Wagen, ließ Motor und Heizung laufen. Er konnte einfach nicht glauben, dass Washington tot war.
Ein Windstoß, der den Regen auf seine Windschutzscheibe wehte, riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte heute Nacht noch zu tun und würde seine Trauerarbeit auf später verschieben müssen.
Er holte sein BlackBerry hervor. In der Zwischenzeit waren vier Anrufe eingegangen: Um zehn hatte sein Vater versucht ihn zu erreichen, die restlichen drei waren von Becky. Ihr letzter Versuch lag erst eine halbe Stunde zurück. Er überlegte, ob er sie zurückrufen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Vermutlich hatte sie es unmittelbar vor dem Schlafengehen bei ihm versucht, außerdem käme sie am nächsten Tag nach Hause, dann würde er sie ohnehin sehen– falls er in Anbetracht der Lage, in der Cahill steckte, die Zeit dazu fände.
Er suchte in seinem Adressbuch nach dem Namen des Strafverteidigers, als er bemerkte, dass die Anzeige seiner Mobilbox blinkte. Er rief die Nachricht ab und musste beim Klang von Beckys Stimme unwillkürlich lächeln– obwohl sie sich mehr als nur ein wenig ungeduldig und genervt anhörte.
Er scrollte sich weiter durch die Liste, bis er auf einen Namen stieß, der der des Anwalts sein konnte. Er drückte die entsprechende Taste, und der komplette Eintrag erschien– einschließlich des Namens der Kanzlei, für die der Mann arbeitete, und deren Notfallrufnummer. Er war fündig geworden.
» Spricht dort Joe Shaw?«, fragte er, als sich nach dem dritten Läuten jemand meldete.
» Am Apparat.«
» Ich muss mich entschuldigen, dass ich so spät noch anrufe. Sie kennen mich vielleicht flüchtig, ich war früher bei Kennedy Boyd und benötige jetzt einen Anwalt in Strafsachen.«
» Okay?«
» Nicht für mich.«
» Ich höre.«
» Ich arbeite jetzt für eine Sicherheitsfirma, deren Besitzer heute Abend festgenommen wurde. Er ist ein guter Freund.«
Am anderen Ende der Leitung hörte Logan Papiere rascheln.
» Gut. Wie lautet die Anklage, und wo befindet sich Ihr Freund jetzt?«
» Es geht um Mord. Er wird im Polizeirevier in der Helen Street festgehalten.«
Es entstand eine lange Pause, sodass Logan schon befürchtete, die Leitung wäre unterbrochen worden, aber dann hörte er wieder die Stimme des
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