Ungnade: Thriller (German Edition)
konnte die einzelnen Worte nicht verstehen, konnte aber sofort Samanthas Stimme ausmachen.
Es dauerte ein Weilchen, bis er aus dem durch das Sedativum herbeigeführten Schlaf wieder voll erwacht war. Sofort spürte er den pochenden Schmerz in seinen Rippen, und auch sein Gesicht fühlte sich seltsam an. Er hob die Hand, um es zu berühren. Es war voller Salbe. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, seit er in den Schlaf gefallen war.
Jemand ergriff seine Hand und sagte seinen Namen.
Er hörte die Stimmen seiner Kinder; hörte sie weinen.
Er riss die Augen auf und erblickte Samantha und die Mädchen vor seinem Bett, dann merkte er, wie ihm selbst die Tränen kamen.
Seine Frau beugte sich über ihn und küsste ihn zärtlich auf die Lippen– es war, als würde er ihren allerersten Kuss noch einmal erleben.
» Ich liebe dich«, flüsterte sie, und er spürte den sanften Hauch ihres Atems an seinem Ohr.
Dann warfen sich seine beiden Töchter in seine Arme. Er drückte alle drei fest an sich, wollte sie nie wieder loslassen.
10
Rebecca Irvine wachte schlagartig auf. Jemand klopfte laut an ihre Zimmertür.
» Hier ist die Polizei. Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Sie war sich nicht sicher, wie lange sie geschlafen hatte, und sah auf die Uhr: An die zwei Stunden waren seit ihrem Anruf vergangen.
Wieso hatte die Polizei so lange gebraucht?
Sie musste ihre ganze Kraft aufwenden, um sich vom Bett zu erheben und zur Tür zu gehen. Durch den Spion erkannte sie das vertraute, beruhigende Schwarz einer Polizeiuniform.
» Können Sie sich bitte ausweisen?« Rebecca beobachtete, wie der Mann seinen Dienstausweis hervorholte und ihn für sie lesbar vor die kleine Öffnung hielt. Dann erst schloss sie die Tür auf.
Der Beamte war noch jung, höchstens fünfundzwanzig, doch als er seine Mütze abnahm, konnte Rebecca seinen Bizeps spielen sehen. Ihr jungen Polizisten macht heutzutage alle Krafttraining, um euch fit zu halten, aber warte es nur ab, bis du erst Frau und Kinder hast, dachte sie, dann wird auch dir ein Bierbauch wachsen wie deinen älteren Kollegen.
» Ich gehöre zur Abteilung für strafrechtliche Ermittlungen der Strathclyde Police«, sagte sie.
Die Bezeichnung schien ihn zu verwirren, zwischen seinen Augen bildeten sich zwei dünne Falten. » Ach so… Ja… Sie haben uns wegen eines Überfalls angerufen, Miss?«
» Ja, genau. Tut mir leid. Ich hatte bloß gedacht…«
Was redete sie denn da? Der Kerl musste sie ja für betrunken halten, was sie nach all dem Wein zum Dinner de facto auch noch war, auch wenn die angenehm berauschende Wirkung längst nachgelassen hatte.
Auf jeden Fall gewann er gleich einen unguten ersten Eindruck von ihr: verschmiertes Make-up plus eine Fahne mit Beigeschmack von Erbrochenem.
Doch wider Erwarten entspannten sich seine Züge. Er setzte die Mütze wieder auf und warf seiner Kollegin, die neben ihm im Hotelkorridor stand, einen Blick zu. Die Frau war ungefähr in Rebeccas Alter.
» Ich schätze, Sie stehen unter Schock«, sagte er. » Lassen Sie uns zusammen aufs Revier fahren, dann erzählen Sie uns alles, einverstanden?«
Rebecca nickte. Sie fröstelte, obwohl es nicht kalt war.
» Sind Sie verletzt?«, fragte der Beamte und betrat das Zimmer, sodass sie einen Schritt zurücktrat. Einen Augenblick lang hatte sie die irrationale Befürchtung, dass die beiden gar keine richtigen Polizisten waren.
» Nein, ich glaube nicht«, sagte sie, als die Polizistin ihrem Kollegen in das Zimmer folgte. » Wissen Sie, es ist bloß…«
Die Polizistin nickte und setzte ein wohlwollendes Lächeln auf. » Sie sollten noch Ersatzkleidung mitnehmen, wir werden Ihre Sachen zwecks Beweissicherung dabehalten müssen.«
» Ja, natürlich.«
Die beiden Beamten sahen ihr zu, wie sie ein sauberes Paar Jeans, ein schlichtes T-Shirt und ein schwarzes Kapuzenshirt aus ihrer Reisetasche kramte. Sie drückte die Sachen dem männlichen Polizisten in die Hand und folgte den beiden dann hinaus auf den Flur.
Die weibliche Beamtin hielt sich hinter ihr, als sie die Treppe hinuntergingen und an der Rezeption vorbeikamen. Der Blick des Nachtportiers folgte ihr, für ihn musste es so aussehen, als würde sie verhaftet werden.
Und so fühlte sie sich auch.
Als sie hinten im Streifenwagen saß und die Häuser an sich vorbeifliegen sah, fiel ihr auf, dass die Beamten bisher noch kein Wort über Roddy verloren hatten. Sie beugte sich nach vorn.
» Haben Sie ihn gefunden? Haben Sie Roddy
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