Unheil
in ihr nicht noch
immer mit aller Kraft dagegen gesträubt, Eichholz auf eine Stufe mit einem zu menschlichen
Gefühlen fähigen Individuum zu stellen, so wäre sie jetzt sicher gewesen, dass
sein Bedauern echt war. »Also gut«, fuhr er in verändertem Tonfall fort. »Wir
werden später noch einmal in Ruhe darüber reden. Vielleicht fällt Ihnen ja doch
noch etwas ein. Kollege Trausch wird Sie jetzt ins Präsidium bringen.«
»Ins Präsidium?« Conny machte ein bewusst schlecht geschauspielertes
überraschtes Gesicht. »Ich dachte, ich wäre vom Dienst suspendiert.«
»Krankgeschrieben«, verbesserte sie Eichholz ungerührt. »Und das
sind Sie auch. Ich betrachte Sie zurzeit weniger als Kollegin, Frau Feisst,
sondern vielmehr als Zeugin. Und möglicherweise als gefährdete Zeugin. Ich bin nicht sicher, ob dieser ganze Terror tatsächlich Ihnen
persönlich gilt. Vielleicht ist der Kerl einfach nur wahnsinnig und versucht
auf diese Weise, den unheimlichen Rächer zu spielen. Aber das Risiko, mit noch
mehr Toten konfrontiert zu werden, ist mir zu hoch. Ich möchte, dass Sie eine
Liste anfertigen, auf der jeder steht, der möglicherweise das Interesse dieses
Verrückten erregen könnte. Freunde, Verwandte ⦠alles eben.«
»Es gibt niemanden«, antwortete Conny.
Eichholz wirkte ehrlich überrascht. »Wie meinen Sie das?«
»So, wie ich es sage«, antwortete Conny. »Sylvia war meine einzige
Freundin. Meine Eltern sind schon sehr lange Zeit tot, und der einzige
Verwandte, von dem ich weiÃ, ist ein Onkel, den ich noch nie gesehen habe und
der in Kanada lebt ⦠glaube ich.«
»Und es gibt sonst niemanden?«, beharrte Eichholz. Er wirkte ehrlich
überrascht, und auch Trausch runzelte die Stirn und sah sie mit sonderbarem,
seltsam betroffenem Ausdruck an. »Freunde? Ehemalige Liebhaber? Gute Nachbarn?
Es muss doch jemanden geben, der Ihnen nahesteht.«
»Nicht nahe genug, um mich zu treffen, indem man ihm etwas antut«, antwortete
Conny.
Und das entsprach der Wahrheit, wie ihr plötzlich und mit fast
körperlich fühlbarer Intensität klar wurde. Es war der falsche Moment.
Vermutlich gab es keinen richtigen Moment für so etwas, aber dies war
vermutlich der allerungünstigste aller vorstellbaren
Augenblicke â und doch war ihr noch nie zuvor selbst so klar geworden, wie
allein sie tatsächlich war. Es gab niemanden in ihrem Leben â niemanden mehr ,nach Leas und Sylvias Tod â, der ihr tatsächlich etwas bedeutete. Natürlich führte sie ein Leben. Es gab
Menschen, die sie kannte und mochte: die alte Dame, die auf der gleichen Etage
wie sie wohnte und der sie manchmal im Aufzug begegnete, die Kassiererin im
Supermarkt, mit der sie manchmal ein paar Worte wechselte. Giovanni, der Besitzer
der kleinen Pizzeria, in der sie zwei- oder dreimal pro Woche ein hastiges
Abendessen einnahm â nicht weil seine Pizzen so sensationell gewesen wären,
sondern weil Da Giovanni zu den wenigen Lokalen der
Stadt gehörte, in denen man auch um Mitternacht noch eine warme Mahlzeit bekam â, der Tankwart um die Ecke ⦠aber das waren nur Bekannte, keine wirklichen Freunde. Ihr Leben war ihr Beruf (ein Schicksal, das sie mit
vielen ihrer Kollegen teilte), und sie tat das, was sie tat, gerne und mit
groÃer Hingabe, wenn auch nicht immer mit dem Erfolg, den sie sich gewünscht
hätte. Es hatte ihr nie etwas ausgemacht.
Und plötzlich war das nicht mehr so.
»Ich würde mich trotzdem gerne noch einmal mit Ihnen unterhalten«,
sagte Eichholz und riss sie damit ebenso unsanft wie willkommen in die
Gegenwart zurück. »Später ⦠wenn Sie sich in der Lage dazu fühlen, heiÃt das.«
»Sicher.«
Eichholz hatte offensichtlich eine andere Antwort erwartet. Er
wirkte enttäuscht und setzte zu einer vermutlich deutlich weniger freundlichen
Entgegnung an, doch Trausch kam ihm zuvor.
»Ich fürchte, er hat es nicht nur auf Connys Freunde und Familie
abgesehen«, sagte er mit einer Geste auf den toten Jungen. Jemand hatte das
Tuch wieder über ihn gezogen, ohne dass sie es überhaupt gemerkt hatte, aber es
nutzte nichts. Sie sah sein Gesicht immer noch. »Der Junge da war nicht
unbedingt ein enger Freund von ihr.«
»Aber Sie kannten ihn.«
»Ich habe ihn genau einmal gesehen«, antwortete Conny. »Nach
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