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Unheil

Unheil

Titel: Unheil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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und die Knie an den Körper gezogen. Natürlich hatte er nicht wirklich
die Hand gehoben und dem Daumen in den Mund gesteckt, aber irgendwie ließ sein
Anblick dieses Bild vor ihrem geistigen Auge entstehen, und sie musste leise
lachen. Ein Teil von ihr wünschte sich, dass dieses Lachen ihn aufweckte und es
das erste Geräusch wäre, das er hörte, doch das geschah nicht, und so beugte
sie sich über ihn, stützte sich mit der linken Hand auf dem Bett ab und griff
mit der anderen nach seiner Schulter, um ihn umzudrehen. Wenn Sie ihn schon
nicht mit einem Lachen wecken konnte, dann vielleicht mit der Berührung ihrer
Lippen.
    Dann wurde ihr klar, dass er nie wieder die Berührung ihrer Lippen
auf den seinen spüren würde. Trauschs Kopf rollte ein gutes Stück weiter herum
als seine Schultern, was daran lag, dass seine Kehle so tief durchtrennt worden
war, dass sie den weißen Knochen seines Rückgrats sehen konnte. Das Bett und
sein Kissen waren schwarz und schwer von eingetrocknetem Blut, während sich auf
der Decke, in die er sich gedreht hatte, nicht ein einziger Tropfen befand.
Immerhin begriff sie jetzt, woher der üble Geruch kam, den sie die ganze Zeit
über unterschwellig gespürt hatte.
    Dann begann sie zu schreien.
    Die Handschellen taten weh. Anscheinend hatte sie
versucht, sich davon zu befreien, denn ihre Handgelenke waren aufgescheuert und
wund, an einigen Stellen sogar blutig. Sie erinnerte sich nicht, sich gegen die
Fesseln gewehrt zu haben oder sogar gegen denjenigen ihrer Kollegen, der sie
ihr angelegt hatte. Sie erinnerte sich auch nicht, wer es gewesen war oder was
sonst geschehen war. Genau genommen erinnerte sie
sich an gar nichts, zugleich aber auch an alles. Plötzlich waren ihre Kollegen
da gewesen, vielleicht alarmiert durch ihre Schreie, die tatsächlich bis auf
die Straße hinab zu hören gewesen waren, vielleicht auch aus irgendeinem
anderen Grund, den sie vermutlich nie erfahren würde. Jemand hatte mit ihr
gesprochen, sie festgehalten und geschüttelt und schließlich angeschrien, und
danach waren noch andere, aufregendere und lautere Dinge geschehen. Mehr
Kollegen waren gekommen, mehr Fragen an sie gerichtet und nicht beantwortet
worden, und mindestens einer ihrer Kollegen war rücksichtsvoll genug gewesen,
Trauschs Kleiderschrank zu öffnen und nach einem Bademantel zu durchsuchen, den
er ihr um die Schultern gelegt hatte.
    So musste es gewesen sein, obwohl sie sich an nichts davon
erinnerte. Die Bilder waren da, alle und in der richtigen Reihenfolge und so
scharf und klar wie eine Aufzeichnung in HD -Qualität,
aber sie schienen irgendwie nicht zu ihr zu gehören, als hätten sich die
Erinnerungen einer Fremden in ihren Kopf verirrt und dort den Platz ihrer
eigenen eingenommen. Was immer auch in den zurückliegenden beiden Stunden mit
ihr und um sie herum geschehen war, schien einer anderen zugestoßen zu sein.
Sie war zur unfreiwilligen Hauptdarstellerin in einem Film geworden, der das
Leben einer anderen Frau zeigte, eine Rolle, die sie perfekt bis ins letzte
Detail ausfüllte, die sie jedoch nicht wirklich berührte.
    Sie selbst … war nicht einmal mehr sicher, ob es sie überhaupt noch gab.
Vielleicht war ein Teil von ihr zusammen mit Trausch gestorben oder doch
zumindest so tief paralysiert, dass das Ergebnis dasselbe war. In ihr war
nichts als Leere, ein tiefer, verzehrender Abgrund, in dem nicht einmal mehr
Platz für Schmerz war.
    Conny sah auf die Uhr. Erst, während sie es tat, wurde ihr bewusst,
dass sie dasselbe schon fünf- oder sechsmal getan hatte, aber es war wie mit
ihren Erinnerungen: Sie betrachtete die winzigen Zeiger und deren Stellung
zueinander, und selbstverständlich wusste sie, was sie bedeutete, doch zugleich
erschien ihr diese Bedeutung so absurd, dass es ihr nicht einmal der Mühe Wert
erschien, danach zu greifen. Seit sie die Augen aufgeschlagen hatte und ihre
Welt von einer Sturmflut aus rotem Entsetzen davongespült worden war, waren
jetzt beinahe drei Stunden vergangen, und jede einzelne Minute davon war die
Hölle gewesen; und zugleich schien überhaupt keine Zeit vergangen zu sein. Sie
hatte sich aus der Wirklichkeit ausgeklinkt, und sie war weder sicher, ob sie
ihren vermeintlich angestammten Platz darin jemals wiederfinden würde, noch, ob
sie es überhaupt wollte .
    Â»Warten Sie auf etwas Bestimmtes?«
    Conny sah auf, blickte in ein von

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