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Unheil

Unheil

Titel: Unheil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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konnte, wie sie wollte. Alles war überscharf und so klar und eindeutig, dass
sie sich vorkam wie eine Neugeborene, die zum ersten Mal in ihrem Leben die
Augen aufschlug und voller Staunen begriff, was es hieß, zu sehen.
    Es war keine wirklich getreuliche Wiederholung der Szene.
Alles war äußerlich so wie beim ersten Mal – der zum Stauraum umfunktionierte
Dachboden, das Gewirr von Kisten und Kabeln und ausrangierten Lautsprecherboxen
und Scheinwerfern und Gitterboxen voller anderer Dinge, deren wirkliche
Bedeutung ihr verborgen blieb –, aber nun wusste sie, wonach und vor allem wo sie zu suchen hatte. Nichts anderes hätte Sinn gemacht.
Aisler wartete dort auf sie, wo sich ihre Wege das erste Mal gekreuzt hatten.
Es war kein Zufall oder gar Dummheit. Nach der kruden Logik, nach der sein
verdrehter Verstand funktionierte, musste er es hier zu Ende bringen.
    Und es war auch das Einzige, was für sie Sinn ergab. Der Kreis hatte sich – fast – geschlossen. Hier hatte er das erste
Mal versucht, sie umzubringen. Und genau hier würde sie ihn töten.
    Conny runzelte die Stirn und blieb stehen, als ihr klar wurde, was
sie gerade gedacht hatte. Sie sollte erschaudern und vielleicht sogar so etwas
wie Entsetzen vor sich selbst empfinden, aber Tatsache war, dass sie lediglich
zum ersten Mal wirklich zugegeben hatte, was sie tief in sich schon die ganze
Zeit über wusste: Sie war nicht hier, um für die hehre Gerechtigkeit
einzutreten oder irgendeinem anderen albernen Prinzip zu gehorchen, das ihr
Leben bisher bestimmt hatte, sondern um dieses Schwein zu erledigen.
    Und es war gut so.
    Sie ergriff, vielleicht nur aus alter Gewohnheit und weil
irgendetwas in ihr noch immer der Meinung war, es müsse einfach so sein, ihre
Waffe fester und schlich geduckt und lautlos und unsichtbar wie ein Schatten
weiter in die Richtung, aus der die Stimmen und der Gestank kamen. Unter dem
Odem der Verwesung konnte sie jetzt noch einen anderen, vertrauten Geruch
wahrnehmen: Furcht. Jemand hatte Angst. Und er litt unter einem Schmerz, der
schlimmer war, als jede Klinge ihn verursachen konnte.
    Etwas in ihr labte sich an diesem Schmerz, ein Teil, vor dem sie
immer noch erschrak, den sie aber nun nicht mehr bekämpfte, denn sie spürte zugleich
auch, wie die Schmerzen und die Furcht des anderen zu ihrer Kraft wurden und
sie mit genau jener Stärke erfüllten, die sie so bitter nötig brauchte, um das
Ungeheuer zu besiegen, das dort vorne auf sie lauerte.
    Sie erreichte den Durchgang, hielt kurz inne und ließ ihren Blick
rasch und sehr aufmerksam durch den großen Raum dahinter tasten, um sich zu
orientieren, bevor sie die Gitterbox fixierte, die beinahe zu ihrem Grab
geworden wäre. Alles war wie damals, nur dass die dröhnende Musik fehlte und statt
eines Stakkatos buntfarbener Lichtblitze ein gleichmäßiger bleicher Schein
durch die Ritzen im Fußboden drang. Niemand wartete auf sie. Wenn Aisler
wusste, dass sie kam (und sie war überzeugt davon, dass er es wusste), und ihr
eine Falle gestellt hatte, dann jedenfalls nicht hier. Sie hätte es gespürt.
    Und auch in der Gitterbox regte sich nichts. Die Stimmen kamen von
dort, gedämpft und aus irgendeinem Grund so verzerrt, dass sie die Worte immer
noch nicht verstehen konnte, und gelbes Licht wie von einer Kerze oder einer
altmodischen Petroleumlampe sickerte durch die Ritzen der unordentlich
übereinandergestapelten Wand aus Pappkartons hinter dem Metall. Ein
Durcheinander aus – jetzt größtenteils zerrissenen – rot-weißen
Kunststoffbändern verwandelte das letzte Stück Weg in einen Hindernisparcours,
der sie gewiss nicht zu Fall bringen würde, es aber vollkommen unmöglich
machte, sich ihrem Ziel lautlos oder auch nur leise zu
nähern.
    Conny zerbrach sich einen Moment lang den Kopf über dieses nicht nur
unerwartete, sondern auch geradezu lächerlich anmutende Hindernis, sah sich
noch einmal und aufmerksamer um und huschte dann nach links, statt geradewegs
auf ihr Ziel zu, um die Gitterbox in weitem Bogen zu umgehen und sich ihr von
hinten zu nähern. Einem Teil von ihr kam ihr eigenes Benehmen absolut grotesk
vor: Aisler wusste, dass sie kam. Es war vollkommen überflüssig, sich
anzuschleichen. Aber alte Gewohnheiten ließen sich offensichtlich nur sehr
schwer ablegen.
    Sie lächelte flüchtig über sich selbst, setzte ihren überflüssigen
Umweg

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