Unheil
Augenblick
vermutlich Amok liefen und der Laut in Wahrheit in dem riesigen Gebäude einfach
versickern musste, huschte aber trotzdem in einen finsteren Winkel neben die
Tür und presste sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand, um zu lauschen.
Nachdem es ihr gelungen war, das rasende Hämmern ihres eigenen Herzens
auszublenden, stellte sie fest, dass das Gebäude nicht so still war, wie es
zunächst den Anschein gehabt hatte: Die verwirrende Akustik der ehemaligen
Maschinenhalle sorgte dafür, dass sie die Stimmen der Putzfrauen selbst hier
noch hörte, ohne allerdings die Worte oder auch nur die Sprache zu erkennen,
derer sie sich bedienten. Das elektrische Summen, das sie nun als das Geräusch
einer viel zu lange nicht mehr gewarteten Klimaanlage erkannte, war noch immer
zu hören, und nun vernahm sie auch Musik; nicht die düsteren Gothic-Klänge und
wummernden Bässe, die dieses Gebäude normalerweise beherrschten, sondern
andere, fremdartige Töne, vielleicht türkische, die aus einem Kofferradio oder
den gesundheitsgefährdend laut aufgedrehten Kopfhörern eines Walkman drangen.
Conny verschenkte noch eine weitere, kostbare Sekunde, in der sie
einfach dastand und sich über diese plötzliche und schon fast unheimliche
Schärfe ihrer Sinne wunderte, aber sie hütete sich, diesem Gedanken zu einem
Ende zu folgen, an dem etwas lauerte, was sie ganz gewiss nicht kennenlernen
wollte, sondern öffnete stattdessen die Augen und nahm dankbar das zweite und
womöglich noch gröÃere Geschenk entgegen, das ihr gemacht wurde: So
überempfindlich und nutzlos ihre Augen auch drauÃen in dem feindseligen
Sonnenlicht gewesen sein mochten, so phantastisch scharf dienten sie ihr jetzt.
Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, sollte es vollkommen dunkel hier drinnen
sein, doch sie konnte sehen, wenn auch auf eine völlig neue, bisher unbekannte
Art: Sie fand sich in einer Welt wieder, die nur aus Grautönen und einer
unendlichen Anzahl unterschiedlicher Abstufungen von Schwarz und Silber
bestand. Ihr Sehvermögen war so scharf, dass es beinahe wehtat.
Dann nahm sie einen neuen Geruch wahr.
Im ersten Moment war er schwach, kaum mehr als ein Hauch, der unter
dem allgegenwärtigen Mischmasch nach Putzmitteln und kaltem Schweià und Ãl und
abgestandenem Rauch und Alkohol kaum wahrzunehmen war. Doch dann, einmal darauf
aufmerksam geworden, sprang er sie an wie ein Raubtier, das bisher geduldig in
seinem Versteck gelauert hatte, und schlug seine Krallen mit solcher Gewalt in ihren
Hals, dass sie würgen musste. Es stank nach Tod. Nicht im übertragenen, sondern
im wortwörtlichen Sinne. Sie roch Fäulnis, süÃliche Verwesung, wie von toten
Dingen, die in den Schatten verfaulten, sich jedoch auf widernatürliche Weise
immer noch bewegten, als wollten sie das Leben verspotten, das sie selbst nicht
mehr hatten.
Sie schluckte die bittere Galle herunter, die sich unter ihrer Zunge
angesammelt hatte, ignorierte die Woge von Ãbelkeit, die dieser nicht besonders
clevere Reflex in ihrem Magen auslöste, und zwang sich, dem widerwärtigen
Gestank bis zu seinem Ursprung zu folgen. Er kam von oben, und Conny
registrierte ohne die geringste Spur von Ãberraschung, dass es genau so war,
wie Vlad gesagt hatte: dort, wo alles begonnen hat. Die Tür am oberen Ende der schmalen Treppe, die Tom und sie damals
hinaufgegangen waren, stand offen. Dahinter flackerte blasses Licht, das sie
vor einer Woche vermutlich noch nicht einmal wahrgenommen hätte, ihr jetzt aber
wie ein grelles Leuchtfeuer vorkam. Geräusche und Stimmen und der Gestank des
Todes. Aisler war dort. Er wartete auf sie.
Eine weitere, allerletzte Sekunde lang stand sie vollkommen reglos
da und versuchte, nicht nur die irrationalen, sondern alle Gedanken
aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, dann zog sie die Waffe aus dem Hosenbund,
legte die linke Hand über den Schlitten, um das metallische Klicken zu dämpfen,
mit dem sie sie durchlud, und huschte nahezu lautlos die rostigen Gitterstufen
hinauf. Alle ihre Sinne waren bis zum ZerreiÃen angespannt, und wieder geschah
etwas mit der Zeit. Diesmal veränderte sie nicht ihr Tempo, sondern schien in
winzige, scharf voneinander abgegrenzte Bereiche zu zerfallen, als betrachte
sie den Film ihres Lebens nun in einer Folge von Einzelbildern, die sie nach
Belieben anhalten und aus unterschiedlichen Blickwinkeln und so lange
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