Unheil ueber Oxford
Mutter. Nachdem sie ihr ganzes Leben lang auf Zehenspitzen um den Kerl herumscharwenzelt war, wurde sie krank, und zwar wirklich krank. Natürlich wurde ihr nicht gestattet, darüber zu reden, geschweige denn, etwas dagegen zu tun. Sie fühlte sich eines Tages nicht wohl, legte sich ins Bett und starb am darauffolgenden Wochenende.«
»Und Sie? Was haben Sie gemacht?«
»Ich habe da weitergemacht, wo sie aufgehört hatte. Kümmerte mich um das Haus und pflegte den alten Mann. Und ich träumte meine Träume. In mir gärte es. Dann starb er auch, und zwar glücklicherweise früh genug, dass ich noch etwas aus meinem Leben machen konnte. Kaum war er unter der Erde, machte ich mich auf und besuchte das College. Ich bildete mich weiter, ging zur Universität, machte meinen Abschluss und promovierte. Und alles hat mir Spaß gemacht.«
»Ja«, sagte Kate langsam. Ihr war der schreckliche Gedanke gekommen, dass sie Faith zutraute, ein Kissen auf das väterliche Gesicht zu drücken, falls er ihrem Ehrgeiz zu lang im Weg gestanden hätte. Stumm hingen beide ihren Gedanken nach.
»Und jetzt müssen Sie mir von dieser Genreliteratur erzählen«, sagte Faith, als Kate sich schon allmählich zu fragen begann, was sie hier suchte. »Immerhin sollen wir den Studenten etwas darüber beibringen.«
»Ich fürchte, über die Theorie weiß ich auch nicht sehr viel«, erklärte Kate. »Ich habe mich immer mehr auf die Praxis konzentriert.«
Faith hob die Augenbrauen, als sei die Theorie das Einzige, was zählte. Wahrscheinlich glaubt sie, dass die Literatur, die sie studiert, einfach irgendwie da ist, dachte Kate. Sie analysiert und gliedert auf, während ich mich mit dem leeren Bildschirm meines Computers herumschlagen muss. Ich überlege, wie ich eine Geschichte schreibe, die den Leser ein paar hundert Seiten lang in ihren Bann zieht, während Faith und ihresgleichen eine Gesamtheit betrachten, der sie den Stempel »Genre« aufgedrückt haben. Eine seltsame Welt!
»Es muss sonderbar sein, einfach so Geschichten zu erfinden«, sagte Faith.
»Nun ja, ich plane schon ein bisschen. Zum Beispiel schreibe ich vorher immer eine Zusammenfassung, halte mich allerdings leider nicht immer daran.«
»Denken Sie vor dem Schreiben über eine Struktur nach?«
»Struktur? Meinen Sie die Reihenfolge, in der ich meine Geschichte erzähle?«
»Ich glaube schon.«
»Ich setze mich einfach hin und schreibe. Dabei versuche ich, alles Langweilige möglichst wegzulassen.«
»Toll!«
»Nein, einfach nur eine Art, Geld zu verdienen, ohne für andere Leute zu arbeiten.«
»Was wissen Sie über Dorothy Sayers?«
»Nicht sehr viel. Ich lese selten Krimis. Sie sind für meinen Geschmack zu ausgeklügelt. Jedes Element der Geschichte hat angeblich einen Sinn. Ich finde das sehr einengend. Mir macht es Spaß, eine völlig spontane Szene – wie zum Beispiel unser gemeinsames Mittagessen jetzt – in die Handlung einzufügen. Sie muss nicht unbedingt eine Bedeutung für den Fortgang der Geschichte haben.«
»Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht, ob es überhaupt eine Handlung gibt?«
»Wie meinen Sie das?«
»Manchmal habe ich den Eindruck, eine Figur in einem postmodernen Roman zu sein. Geht es Ihnen nicht ähnlich?«
»Eigentlich nicht. Möchten Sie vielleicht noch etwas Tomatensalat?«
»Danke. Wie haben Sie es eigentlich geschafft, aus den paar kümmerlichen Zutaten in meiner Küche eine solche Mahlzeit zu zaubern?«
»Das ist eine meiner Begabungen.«
»Sie müssen mir irgendwann einmal zeigen, wie so etwas geht.«
»Vielleicht in Kapitel zwölf.«
»Wie bitte?«
»In unserem Roman.«
»Ach so, verstehe.«
»Manchmal komme ich mir in letzter Zeit allerdings vor, als ob ich in einem richtig traditionellen Krimi gelandet wäre«, sagte Kate.
»Und was würden Sie als die wichtigsten Merkmale dafür bezeichnen?«
»Die Unfähigkeit, zu verstehen, was jeweils geschieht und welche Bedeutung es für das Ganze hat. Falls es überhaupt eine Bedeutung hat. Und falls ein Ganzes existiert.«
»Nehmen Sie sich noch ein Glas Wein, vielleicht verstehen Sie es dann besser.«
»Danke sehr.«
»Ihr Eindruck, in einem Krimi gelandet zu sein, interessiert mich«, sagte Faith und blickte nachdenklich über Kates Schulter hinweg. »Haben Sie ebenfalls das Gefühl, dass hier ein Verbrechen geschehen ist? Und wenn ja, was für eine Art Verbrechen?«
Die folgende Stille war so vollständig, dass wohl beide in der Erwartung von Kates Antwort den
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