Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers
solche Untersuchungen einige Wochen. Ein vorläufiges Ergebnis also, das nicht ausreichte, um die Pflegerin als Beschuldigte zu vernehmen oder gar festzunehmen.
Die Staatsanwaltschaft leitete noch kein Verfah ren wegen Verdachts eines Tötungsdelikts ein, auch wenn die Mordkommission die Ermittlungen übernahm. »Wir brauchen mehr konkrete Hinweise«, meinte der Staatsanwalt in der anschließenden Besprechung.
Wenn der Verdacht besteht, dass ein Mensch vorsätzlich getötet wurde, stellen sich immer dieselben Fragen: Wer, wann, wo, was, wie, womit und warum? So jedenfalls lauten die »sieben goldenen W« der Kriminalistik, die jeder Polizist schon im ersten Ausbildungssemester lernt und die ihn sein ganzes Berufsleben lang begleiten. In diesem Fall gab es noch auf keines dieser »W« eine sichere Antwort.
T herese O. wurde noch am Abend durch die Mordkommission als Zeugin vernommen. Konfrontiert mit dem vorläufigen Obduktionsergebnis und zu wahrheitsgemäßen Angaben ermahnt, reagierte sie, wie es ihrem Naturell entsprach. Die Rechtsmediziner hätten doch keine Ahnung, wehrte sie sich. Es sei geradezu lächerlich, einen gewaltsamen Erstickungstod zu diagnostizieren. Punktförmige Blutaustritte könnten durch viele Ursachen entstehen, beim Wickeln eines Patienten genauso wie beim angestrengten Pressen infolge eines harten Stuhlgangs; von Herzinfarkt, Schlaganfall oder natürlichem Ersticken, beispielsweise durch Verlegung der Luftröhre, gar nicht zu reden. Schwester Therese kannte sich gut aus.
Dr. von W. habe außerdem an Diabetes, Bluthochdruck und schwerer Arthrose und damit einhergehenden Schmerzen gelitten. Sie habe alles getan, um ihm ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, und sei sogar in seine Wohnung eingezogen. Dafür würden ihr jetzt solche unsinnigen Dinge unterstellt. Es sei mit ihm in letzter Zeit abwärts gegangen, und sowohl der neu hinzugezogene Hausarzt als auch sie hätten gewusst, dass es nicht mehr allzu lange dauern konnte, bis der Tod einträte, ohne dass jemand vorherzusagen vermochte, wann das sein würde. Gestern Abend habe sie ihn normal zu Bett gebracht, heute Morgen sei er tot gewesen. Das passiere nicht selten bei alten Menschen. Sie habe sofort den Hausarzt verständigt, der einen natürlichen Tod bestätigte, dann einen Bestattungsdienst beauftragt und die Einäscherung veranlasst, so wie es dem Wunsch Dr. von W.s entsprach.
Den Ermittlern, die Therese O. vernahmen, war klar, dass von dieser Frau kein Geständnis zu erwarten war. Nie würde sie ein Fehlverhalten einräumen und schon gar keine schwere Schuld. Therese O. wurde von den Beamten in die Kategorie der rational handelnden Täter eingestuft und damit in eine Reihe gestellt mit Mördern, brutalen Totschlägern und anderen gefühlsarmen Tätern. Sie wirkte extrem berechnend und kaltherzig. Aber war das eine realistische Einschätzung? Immerhin hatte sie ihr ganzes Leben lang kranken Menschen geholfen. Und warum sollte sie einen sterbenden Menschen tö ten, den sie fast ein Jahr lang aufopfernd gepflegt hatte?
Einen ersten Schuldnachweis erbrachte das Obduktionsergebnis allein für sich genommen nicht. Also galt es, Antworten auf viele offene Fragen zu finden. Wer war diese Frau? Hatte sie gezielt nach einem Opfer gesucht? Wenn ja, warum? Wie konnte sie dessen Vertrauen gewinnen? Warum isolierte sie Dr. von W. von seinem Umfeld? Wann fasste sie den Entschluss, ihn zu töten? Was war der Auslöser, die Ursache? Wie und womit ermordete sie ihn?
Bei Tötungsdelikten werden sowohl Täter- als auch Opferbilder erstellt. Es galt also, das Umfeld von Schwester Therese ebenso zu durchleuchten wie das des toten Dr. Roland von W. Zwei Schwer punkte wurden hierbei gesetzt: wirtschaftliche, finan zielle Verhältnisse einerseits, medizinisch-gesundheitliche Aspekte andererseits.
Therese war mit dem Allgemeinmediziner Dr. Wilhelm O. verheiratet gewesen, der eine gut gehende Praxis in München-Pasing betrieb und vor acht Jahren überraschend an einem Herzinfarkt verstarb. Die von ihm bereits eingeleitete Scheidung erübrigte sich damit, wie eine ältere ehemalige Mitarbeiterin von ihm noch wusste. Angeblich hatte der Arzt die übermäßige Konsumsucht seiner Frau nicht mehr ertragen, außerdem soll sie regelmäßig um hohe Summen gespielt haben. Dr. Wilhelm O. war eingeäschert worden, und die Umstände seines Todes ließen sich somit leider nicht mehr klären.
Die Ehe war kinderlos geblieben, und Therese O. verkaufte die Praxis
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